Game-Changer Selbsthilfe
Nora war lange depressiv und in Therapie. Für sie war der Besuch einer Selbsthilfegruppe ein echter Game-Changer und deswegen macht sie sich jetzt für das Thema stark. Mit InCogito hat sie über darüber gesprochen, was man durch eine Selbsthilfegruppe lernt und in einer Therapie vielleicht nie.
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InCogito: Nora, du bist seit vielen Jahren in der Selbsthilfe aktiv. Unter dem Begriff stellen sich viele Menschen oft Stuhlkreise in angestaubten Kellerräumen vor. Wie würdest du Selbsthilfe für dich definieren?
Nora Fieling: Selbsthilfegruppe bedeutet für mich, dass ich einen Raum habe, wo ich sein darf wie ich bin – auch eben ängstlich oder depressiv. Während ich in der Therapie Therapieziele formuliert habe und in meinem privaten und beruflichen Alltag immer wieder mit Herausforderungen konfrontiert bin, die ich bewerkstelligen möchte, kann ich in der Selbsthilfegruppe einfach mal so sein, wie ich gerade bin. Ohne etwas leisten zu müssen. Als ich damals noch in einer Selbsthilfegruppe zum Thema Depression und Ängste war, fand ich das enorm hilfreich, auch einfach mal da sein zu dürfen, ohne etwas sagen oder machen zu müssen.
In meiner jetzigen Selbsthilfegruppe – eine Gruppe zum Thema emotionale und körperliche Gewalt in der Kindheit und Kontaktabbruch zu den Eltern, sitzen wir auch in einem Stuhlkreis. Allerdings in einem freundlichen Gruppenraum in der zweiten Etage in der Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe in Berlin Pankow. Wir sind eine klassische Gesprächsgruppe. Durch meine Arbeit, wenn ich manchmal Gruppen in der Gründung begleite, weiß ich aber auch, dass es vielfältige kreative Methoden gibt, um so eine Runde etwas anders zu gestalten. Selbsthilfe ist so so so viel vielfältiger als es vor allem in Filmen und Serien dargestellt wird.
Wie kommt es, dass du dich auf Instagram so stark für das Thema Selbsthilfe einsetzt?
Selbsthilfe ist ja ein ganz weites Feld und so viel mehr als „nur“ Selbsthilfegruppen. Vieles von dem, was ich jetzt weiß, hätte ich gerne schon als Teenager oder zumindest am Anfang meiner Therapie erfahren. Und vieles von dem stelle ich online vor – Dinge aus dem Bereich der Psychoedukation aber eben auch viel Richtung Selbsthilfe-Methoden.
Wir können als einzelne Personen schon einiges machen – nicht nur, wenn wir bereits erkrankt sind, sondern auch präventiv. Und ich bin überzeugt davon, dass Psychotherapie bzw. ärztliche Behandlung als auch individuelle Selbsthilfe-Strategien super ergänzen. „Individuell“ ist mir hierbei besonders wichtig – denn wir dürfen auch im Selbsthilfe-Bereich nichts pauschalisieren. Auch hier ist es ganz normal, dass nicht alles allen hilft, sondern die Selbsthilfe-Methode so individuell ist, wie der einzelne Mensch selbst.
Auf deinem Instagram-Kanal @nora_fieling sprichst du häufig über Stigmatisierung und Vorurteile gegenüber psychischen Erkrankungen, im speziellen von Depression. Welches Ziel verfolgst du damit?
Auf meinem Account spreche ich über die Symptome bzw. Erkrankungen mit denen ich Erfahrungen habe – allen voran Depression und Angststörung. Nur, wenn wir auch als Betroffene offen(er) darüber sprechen, können wir mit zur Enttabuisierung und Entstigmatisierung beitragen.
So oft heißt es, dass die Gesellschaft „schuld“ sei oder die Gesellschaft sich ändern muss. Natürlich bestehen in dem Bereich gesellschaftliche Probleme und noch viel Aufklärungsbedarf. Wir alle, jede einzelne Person von uns, sind aber Teil der Gesellschaft und können mit darauf einwirken. Auf ganz unterschiedlichen Ebenen – nicht jeder Mensch muss so einen offenen Blog wie ich betreiben. Aber sich informieren, auf sein nächstes Umfeld einwirken und mit der Entstigmatisierung (Selbststigmatisierung) können wir bei uns selbst anfangen.
Mein Ziel ist es, selbst offener über diese Tabu-Themen zu sprechen, Einblicke zu gewähren, aber zugleich auch Impulse zu Hilfestellungen zu geben. Und wenn ich nur eine Handvoll Menschen erreiche, die ihr Verhalten überdenken, sich eine der Inspirationen raussuchen und für sich und ihr Leben etwas mitnehmen, dann ist das schon super. Und hiermit spreche ich nicht nur die Außenstehenden oder Angehörigen an – vor allem, wenn ich von Betroffenen Nachrichten erhalte, so nach dem Motto, dass sie sich nun endlich getraut haben, fachliche Unterstützung zu suchen oder aufgrund meines Erfahrungsberichts mal eine Selbsthilfegruppe besucht haben, dann hat mein Tun seinen Sinn erfüllt.
Wie sind die Reaktionen auf deine Instagram-Arbeit? Bekommst du Rückenwind und musst du dich auch mit Hate auseinandersetzen?
Zu 95 % ist das positives und wertschätzendes Feedback. Natürlich gibt es hier und da ein paar Kommentare von Trollen oder von Menschen, die da eher eingeschränkt denken. Manchmal gehe ich in den Austausch mit ihnen, andere werden blockiert. Bis dato kam es zweimal vor, dass ich aufgrund von Hate-Nachrichten Anzeige bei der Polizei erstellt habe. Das Internet ist kein rechtsfreier Raum, wir müssen uns nicht alles gefallen lassen und auch hier muss man natürlich seine Grenzen setzen. Aber wie gesagt, mehr als der Großteil ist absolut wertschätzendes Feedback – sowohl von Betroffenen, Angehörigen und auch allgemein Interessierten oder Fachpersonal.
Du bist seit 2022 selbstständig und bietest deine Erfahrungen und Expertise für Einzelpersonen und Organisationen an. Was genau machst du da?
Das dieser Bereich auch beruflich etwas für mich sein könnte, kam tatsächlich durch mein ehrenamtliches Engagement im Offenen Treff für Angst und Depression in Berlin. Dort war ich fünf Jahre lang Gastgeberin und erfuhr von einem Kollegen von der Fortbildung zur Ex-In-Genesungsbegleiterin. Nachdem ich ein paar Jahr vorher mein Studium der Sozialen Arbeit abgebrochen hatte, dachte ich ja lange, dass ich zu labil für diesen Bereich sei.
Aber durch ehrenamtliche Engagements merkte ich, dass mir die Arbeit mit anderen Erkrankten Freude macht, dass ich das kann. Daraufhin schloss ich die Fortbildung ab, später eine Fortbildung zur Resilienztrainerin und zur MHFA (Mental Health First Aid). Zwei Jahre arbeitete ich in der Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe in Pankow, bot dort die Peer-Beratung an und war in Teilzeit selbstständig. 2022 habe ich mich komplett selbstständig gemacht – mit der Peer-Beratung bzw. -Mentorings (mehrwöchige Begleitung von Betroffenen und/oder Angehörigen), biete Vorträge und Workshops an für allgemein Interessierte, Betroffene, Angehörige oder eben auch in Unternehmen.
Eine tolle Zusammenarbeit erfolgte hierbei auch mit den anderen Frauen vom Projekt „Seelische Erste Hilfe Leisten“ – neben den Ersthelfendenseminaren, bieten wir dort das Seminar zur Suizidprävention an, welches sich an Angehörige bzw. Außenstehende richtet und Menschen befähigt, andere in lebensmüden Krisen anzusprechen und an fachliche Unterstützung weiterzuleiten.
Ebenso bieten wir das Seminar zur Abgrenzung & Eigenschutz an, als auch das das zur Kommunikation mit Betroffenen von Partnerschaftsgewalt. Zudem bin ich ehrenamtlich im Berliner Netzwerk zur Suizidprävention tätig und seit 2023 Beirätin in der dortigen Fachstelle. Mit den Berliner Selbsthilfe-Kontaktstellen bin ich immer noch sehr gut vernetzt, unterstütze seit Anfang 2023 den Offenen Treff für Depression für junge Menschen in der Kontaktstelle in Berlin Mitte und begleite hier und da Gruppen in ihrer Gründung. Seit letztem Jahr steht mein selbst konzipiertes ANKER-Training, welches dieses Jahr in eine weitere Runde geht. ANKER steht für „Achtsam und nachhaltig durch Krisen mittels Emotionsregulation und Resilienz“ und ist ein mehrwöchiges Training, in denen Du Deinen Selbsthilfekoffer füllen kannst. Themen sind hierbei nicht nur jene, die in der Resilienztheorie gängig sind, wie beispielsweise Akzeptanz, Optimismus und Lösungsorientierung, sondern auch die Auseinandersetzung mit (Selbst-)Werten, Psychoedukation zum Zusammenhang von Gedanken, Gefühlen und Verhalten als auch das Entwickeln eines SOS-Krisenplans. Aktuell bin ich dabei, dies auch als Online-Kurs zu erstellen für jene, die sich nicht in Gruppen austauschen wollen.
All das hat sich so entwickelt – und ich freu mich total darüber. Durch mein Bloggen und Autorinnen-Dasein bin ich viel für mich allein und arbeite oft im Homeoffice, was mir total gut gefällt. Aber wenn ich eine Gruppengründung begleite, eine 1:1-Beratung führe oder einen Workshop gebe, genieße ich quasi die Zusammenarbeit mit Menschen und finde den Austausch total inspirierend.
Obwohl vor ein paar Jahren diverse Mitarbeitenden seitens der Bundesagentur für Arbeit oder auch Ärzt:innen, Therapeut:innen, Sozialarbeiter:innen meinten, dass ich doch anstatt mit Menschen lieber in einem Steuerbüro arbeiten sollte, bin ich total glücklich in meinem Job und freue mich, dass ich auf die Menschen damals nicht gehört habe. Leider geht es aber so noch vielen anderen Menschen. Noch zu oft heißt es, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung nicht in sozialen Berufen arbeiten sollten – das ist nicht nur pauschalisierend, sondern auch diskriminierend. Auch hier zeigt sich wieder, dass wir alle in unserer Erkrankung individuell sind und als solche auch behandelt werden sollten.
Du hast ein Buch zum Thema Depression geschrieben. Was wolltest du Menschen damit wissen lassen? Und hat das auch etwas mit Selbsthilfe zu tun?
Der Ursprung war, dass ich als Jugendliche selbst viele Betroffenenbücher und Ratgeber las, auf der Suche nach dem Buch, in dem ich mich wiederfinde. Ein Buch, welches mir zeigt, dass ich nicht unnormal oder anders bin. Ein Buch, welches mir zeigt, dass ich nicht allein mit diesen Symptomen bzw. der Erkrankung bin. Dadurch entstand erstmal mein Blog und später kam Anna vom Starks-Sture-Verlag auf mich zu und schlug mir das Buch-Projekt vor. Darin beantworte ich die Fragen, die ich selbst gerne am Anfang meiner Erkrankung beantwortet hätte: Warum ich? Was nun? Therapie oder Selbsthilfegruppe? Medikamente, ja oder nein? Psychologe oder Psychiater – welcher Arzt ist der richtige für mich? Wo finde ich die passende Hilfe? Welche Therapie wird von der Krankenkasse erstattet? Wie gehe ich mit dem Thema Arbeit und Krankheit um? Wie kann ich oder wie können meine Angehörigen mir helfen?
Neben fachlichen Infos berichte ich von meinen eigenen Erfahrungen – wie war das damals als Kind mit dieser Symptomatik? Wie fand ich Hilfe? Wie läuft das so in der Partnerschaft mit Depressionen? Warum waren und sind Tiere eine so große Unterstützung? Letzteres ist dann auch der Übergang zu Selbsthilfe-Methoden. Seien es die Tiere, das Schreiben oder auch der Besuch von Selbsthilfegruppen – Du erfährst, was ich ausprobiert habe und warum es mir hilft. Dies kann eine Anregung für andere sein.
Das Buch ist jedoch nicht nur für Betroffene geschrieben, sondern auch für Angehörige, die gezielt einige Kapitel erhielten. So beispielsweise, Impulse, wie man mit depressiv Erkrankten umgehen kann, aber auch, wie man sich selbst abgrenzt. Das Thema Suizidalität bzw. Suizidprävention ist mir sehr wichtig, weshalb auch dies einen größeren Raum erhalten hat: Ich räume mit den gängigen Vorurteilen auf und gebe Impulse, wie man im Sinne der Ersten Hilfe ein Gespräch mit Betroffenen führen kann.
Zudem kommen drei Personen aus dem fachlichen Kontext in Form von Interviews zu Wort:
Mein Psychiater, Herr Peters; beantwortete mir Fragen zu Psychopharmaka, las das Buch auf fachliche Richtigkeit hin Korrektur und schrieb mir das Vorwort. Die Klinik-Chefin und Post-Präsidentin der DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychotherapie, Psychiatrie und Nervenheilkunde), Frau Dr. Hauth beantwortete mir Fragen zu genetischen Ursachen von Depressionen und mit der Heilpraktikerin für Psychotherapie, Jessica Exner, welche tiergestützte Therapie anbietet, sprach ich darüber, wie und warum Tiere einen positiven Einfluss auf Menschen mit Depressionen haben können.
Du willst noch mehr über Noras Geschichte, ihr Buch, und ihre Angebote heute wissen?
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Website Nora Fieling
Instagram Nora Fieling
Buch Nora Fieling
Welchen Tipp, oder Rat würdest du Menschen geben, die überlegen an einem Selbsthilfeangebot teilzunehmen, aber noch nicht ganz überzeugt sind, Zweifel oder Vorurteile haben?
Sich vorab über die Gruppe bzw. deren Vorgehensweise informieren und ausprobieren. Viele Selbsthilfegruppen sind ja an Selbsthilfe-Kontaktstellen angegliedert, wo man ein Beratungsgespräch nutzen kann. Oftmals kann man auch die Gruppe selbst vorab kontaktieren und da nach einem Gespräch fragen. Ansonsten wirklich ausprobieren. Und wenn die erste Gruppe nicht so passt, dann auch mit einer weiteren mal ausprobieren. Das klingt vermutlich anstrengend und je nach Thema oder persönlicher Verfassung ist es das auch. Nur ist es so, wie es immer ist, wenn man etwas mit Menschen macht – die Chemie muss stimmen. Ansonsten ist hier natürlich weiter auch die Frage, warum ist die Person nicht überzeugt? Welche Zweifel oder Vorurteile bestehen? Und dann darüber mit jemanden zu sprechen – bei mir in der Peer-Beratung ist das oftmals ein Thema. Ich selbst hatte übrigens auch ziemlich große Vorurteile und dachte, dass mir 10 andere Menschen mit Depressionen in meiner depressiven Krisen ja nun wirklich nicht helfen können und das ich mich ja auch gar nicht abgrenzen kann. Aber es war dann alles anders, als gedacht und das mit der Abgrenzung habe ich nur gelernt, weil ich mich hier und da den Herausforderungen gestellt habe.
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