You can’t catch me now: Mein Umgang mit der Waage.
Menschen, die von Essstörungen betroffen sind oder es einmal waren, machen sich im Prozess der Heilung auf den Weg die Verbindung zum eigenen Körper wieder herzustellen, das eigene Bauchgefühl wieder zu finden und zu lernen darauf wieder voll Vertrauen zu hören. Auf diesem Weg liegen kleinere und größere Steine, die es geduldig aus dem Weg zu räumen gilt. Einer dieser Steine ist die Konfrontation und der Umgang mit der Waage. Warum ich mir erlaubt habe, wieder zu lernen mir selbst und meinem Körpergefühl zu vertrauen, welche Rolle dabei die Waage spielt und was mir in diesem anhaltenden Prozess hilft, möchte ich hier teilen.
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Eine Körperwaage: sehr viel mehr als ein technisches Gerät
Für mich, wie auch für so viele andere Betroffene, ist die Waage leider nicht nur ein technisches Gerät, sondern aufgeladen mit verschiedensten Gefühlen, Gedanken und geknüpft an zwanghaftes Verhalten.
Ganz weit oben ist da Scham. In meiner ersten richtigen Therapie stellte mich die Therapeutin nach jeder Session auf die Waage. Ich erinnere mich an Momente peinlicher Stille, in denen ich meine Schuhe nicht ausgezogen bekam, an den Schnürsenkel panisch zerrte, (was die Sache natürlich nur zusätzlich verschlimmerte) und schon Hitze in meinen Kopf schießen spürte. Mit einem Mal waren mir meine bunten Socken unendlich peinlich und tausend Gedanken ratterten gleichzeitig durch meinen Kopf: Wie wird das kommentiert, wenn ich zugenommen habe? Wie wird das kommentiert, wenn ich abgenommen habe? Welche Konsequenzen wird das Ergebnis haben? Heute weiß ich, dass das in ein therapeutisches Setting zu verlegen eine gesunde und wichtige Entscheidung war. Es war durchaus eine Erleichterung mit dieser Herausforderung nicht alleine sein zu müssen. Trotzdem war das Wiegen vor externen Personen, egal ob besorgte Familienmitglieder, netten Ärzthelfer:innen oder professionellen Therapeut:innen, für mich beschämend. Nicht nur, weil die sich verändernde Zahl verschiedenste Gefühle und Gedanken in mir auslöste, ich schämte mich dafür, mich überhaupt in so einer Situation zu befinden. Bei etwas scheinbar so Banalem, Unterstützung zu benötigen.
Neben dem Gefühl der Scham löste das Wiegen auch Gefühle der Neugier und eine Art von kribbelndem Hochgefühl in mir aus. Hinter der vermeintlichen Neugier befand sich allerdings ein zwanghaftes Verhalten, was mich immer wieder auf die Waage zog. Essstörungen sind psychosomatische Erkrankungen mit Suchtcharakter und allein ein Blick auf die Waage als bloßes technisches Gerät, welches so unscheinbar im Bad, Schlafzimmer, bei Freud:innen, manchmal sogar in der Öffentlichkeit (!) oder sonst wo steht, kann Druck auslösen. Ich traute meiner Körperwahrnehmung überhaupt nicht, daher regelte unter anderem die Zahl auf der Waage das für mich. Habe ich mich längere Zeit nicht gewogen, fühlte ich mich irgendwie „verloren“ und unsicher. Dieses Nichtwissen nutzte die Stimme der Essstörung um mir ein unangenehmes Körpergefühl einzureden. Paradoxerweise erlebte ich dasselbe Gefühl auch dann, wenn ich über mein Gewicht Bescheid wusste. Egal wie das Ergebnis ausfiel, es blieb verunsichernd. Das beschriebene „Nach-dem-Wiegen-und-es-ist-weniger“ – Hochgefühl ist natürlich absolut trügerisch, kurzweilig und die Quelle dafür nicht das gesunde Selbst. An dieser Stelle ganz deutlich: die Essstörung ist niemals zufrieden und sie wird es auch niemals sein. Sie ist eine Erkrankung, welche den Körper und die Seele auszehrt.
Das Hochgefühl, wenn überhaupt, ist von nur sehr, sehr kurzer Dauer. Auch eine Gewichtsabnahme nutzt die Essstörung aus, um erneuten Stress und neuen Druck auszulösen. Kurzum: keine Chance sie zufriedenzustellen. Es ist ein ständiger Teufelskreislauf, ein Sog, gekoppelt an hartnäckige, fiese, selbstzerstörerische Glaubenssätze, und es fordert enorm viel Kraft und Mut da auszusteigen. Sich dem entgegenzustellen.
Last but not least war das Wiegen natürlich von einer konfusen, aber deswegen nicht weniger starken Angst begleitet, in der alle zuvor angeführten Gefühle irgendwie zusammenkamen.
Die Waage wurde so im Laufe der Zeit zu einer irrationalen Bedrohung, obwohl sie doch, im therapeutisch-ärztlichen Setting, den Heilungsprozess absichern soll. Auch zur langfristigen Stabilisierung kann sie durchaus konstruktiv eingesetzt werden. Und dann? Auch mit einem gesunden Gewicht, ist das noch keine Garantie dafür, dass der Kopf sich von einer übermäßigen Beschäftigung mit der Waage dauerhaft lösen kann. Die US-Amerikanische Psychotherapeutin Susan Schulherr schreibt in „Ess-Störungen für Dummies. Den Weg zurück ins Leben schaffen“ (Weinheim 2009): „Einer der wichtigsten Punkte auf dem Weg der Genesung ist es, andere Dinge an sich wertschätzen zu lernen als das Gewicht“.
Weniger „Gewicht“ aufs Gewicht
Ich habe für mich festgelegt, dass ich meinen Wert und mein WohlFÜHLEN nicht an nichtssagende Zahlen knüpfen möchte. Ich selbst möchte meine eigene Quelle sein aus der ich Sicherheit und Vertrauen in jedem Augenblick schöpfen kann. Ich möchte Veränderungen in mein Leben lassen, meiner Persönlichkeit und meinen Werten Raum geben. Ich möchte nicht den Idealen und Forderungen einer diätverherrlichenden Gesellschaft nachjagen, die ich sowieso niemals erfüllen kann und auch nicht erfüllen möchte.
Ich möchte mich in und mit meinem Körper wohlFÜHLEN.
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Drei konkrete Tipps im Umgang mit der Waage
- Konstruktive statt destruktiver Gedankenbilder
Eine Möglichkeit sehe ich in der Kraft der Gedanken. Lange Zeit habe ich mir erfolgreich eingeredet, dass Gewichtsveränderungen etwas Schlechtes sind, dass mein Körper sich nicht verändern darf und dass ich nur über meinen sichtbar kranken Körper meine Bedürfnisse kommunizieren kann. Also kann ich mir das auch genauso gut erfolgreich wieder ausreden! Ein alternativer Zugang zu einem gesunden Körperempfinden, der es nicht nötig macht ständig auf die Waage zu steigen, sind Gedankenbilder. In ihnen kann ich mich an jeden beliebigen Ort stellen. Einzige Bedingung: ich muss mich dort wohl und sicher fühlen. Dabei stelle ich mir jedes Detail ganz genau vor. Was ich dort sehe, höre und rieche. Welche Kleidung ich trage, wie meine Haare aussehen, welche Körperhaltung ich einnehme. Ein Gedankenbild von mir ist beispielsweise eine Kulisse am Meer. Dort spüre ich den Wind auf meiner Haut und in meinen Haaren. Ich stelle mir vor was ich sehe und ich nehme mich selbst wahr. Diese Bilder in meinem Kopf gestalte ich bewusst so, dass ich mich darin frei und wohl fühle. An Tagen, an denen ein unangenehmes Körpergefühl übermächtig wird, hole ich mir die Gedankenbilder hervor. Sie sind dann eine konstruktive Alternative zu destruktivem Verhalten. Die von mir gestalteten Gedankenbilder sind, ebenso wie die Bilder, welche die Essstörung im Kopf ständig produziert, fiktiv, aber sie haben ganz entgegengesetzte Effekte. Mit der Zeit und mit etwas Übung, werden meine eigenen Gedankenbilder kräftiger und es fällt mir leichter mich diesen zuzuwenden. Wichtig ist sich etwas Zeit zunehmen, um diese Gedankenbilder zu kreieren. Ich habe sie mir zusätzlich aufgeschrieben, was ihnen nochmal mehr Intensität und Tiefe verleiht. Der Kreativität sind da aber natürlich keine Grenzen gesetzt. - Gemeinsam „Grenzen“ überwinden
Eine weitere Möglichkeit sehe ich darin gemeinsam „Grenzen“ zu überwinden. Mit „Grenzen“ meine ich in diesem Fall jene Gewichtsgrenzen, welche die Erkrankung „festlegt“. Das reicht von „Bevor ich nicht XY Gewicht erreicht habe, bin ich nicht krank genug“ bis zu „Okay, ich werde zunehmen, aber nur bis ich XY Gewicht erreicht habe“. Die Heilung einer Essstörung bedeutet aber viele, viele „Grenzen“ (oder „Hürden“, „Regeln“ etc.) ständig zu überwinden. Das erfordert viel Mut und ist mit viel Angst verbunden. Gerade dann, wenn krankhafte Grenzen (endlich!) gesprengt werden, tut es gut nicht alleine zu sein und aufgefangen zu werden. Alle Gedanken, Gefühle und Tränen sind okay, nur aus Angst vor dem Ungewissen sich wieder zurückzuziehen wäre fatal. Gerade dann, wenn „Neuland“ (Waage aus dem Haushalt verbannen, gesundes Gewicht erreichen etc.) betreten wird, wo so viel Schönes wartet (!), sind helfende Hände von lieben und vertrauten Menschen sehr wertvoll. Sich Unterstützung und Hilfe zu holen ist eine große Ressource. Es ist eine enorme Stärke, diese zu aktivieren. - Die Lücke füllen
Als mir bewusst geworden ist, dass mir dieses temporäre Hochgefühl des Wiegens (was immer es mir auch gab (Pseudokontrolle, Zuwendung, Aufmerksamkeit)), fehlt, wurde mir klar, dass ich etwas anderes finden muss, um die entstandene Lücke zu füllen. Zunächst muss ich mir selbst aber die Frage stellen, wofür die Waage in meinem Leben steht und welches Defizit sie auszugleichen versucht. So kann dann eine Alternative gefunden werden, die das vermeintliche, trügerische und kurzweilige Hochgefühl durch ein anhaltendes, starkes und echtes Gefühl austauschen kann. Ich muss nicht wissen wie viel ich wiege, um glücklich zu sein.
Der Waage ihre Macht nehmen
Jeder Krankheitsverlauf ist unterschiedlich und so gibt es auch nicht „den einen“ Umgang mit der Waage. Es soll gar nicht ausgeschlossen werden, dass ein gesunder Umgang mit ihr unmöglich ist. Manchmal kann aber auch das ärztliche Wiegen die Erkrankung zusätzlich anstacheln. Besonders in Kliniken in Deutschland wird viel Aufmerksamkeit auf Wiegen und Gewichtsregulation gelegt. Das ist bis zu einem gewissen Grad unabkömmlich, denn Körper, die sich auf Dauer im Defizit befinden, können fatale gesundheitliche Folgen bis hin zum Tod nach sich ziehen. Wird diese starke Aufmerksamkeit auf Waage und Gewicht von der Erkrankung ausgenutzt, sollte etwas verändert werden.
Durch das ehrliche Beantworten der folgenden Fragen wird schnell klar, ob es ein gesunder oder doch eher destruktiver Umgang ist.
Mit welcher Absicht steige ich jetzt auf die Waage?
Welche Gedanken und Gefühle löst die Zahl auf der Waage in mir aus?
Wie beeinflusst das Ergebnis meine Stimmung und mein Verhalten unmittelbar jetzt?
Wie bewerte ich Gewichtsschwankungen? Kann ich diese gleichermaßen annehmen?
Einmal kurz auf die Waage steigen mag verlockend sein, doch das ist nur die altbekannte Spitze des Eisbergs. Die Waage sollte nicht die Macht haben darüber zu bestimmen, welchen Wert wir haben, wie unsere Persönlichkeit ist und wie wir uns in unseren Körpern fühlen dürfen. Diese Macht gebe ich ihr über mich nicht (mehr).
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