Die männliche Dunkelziffer
Aron Boks ist Autor und Poetry Slammer aus Berlin. In seinem Buch „Luft nach Unten. Wie ich mit meiner Magersucht zusammenkam und mit ihr lebte.“ (Schwarzkopf&Schwarzkopf, 2019) schreibt er über die verzerrte Sicht eines männlichen Essgestörten. Warum Essstörungen bei Jungs und jungen Männern so wenig thematisiert werden? Dafür hat er eine Erklärung.
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Sobald das Wort Essstörungen in Unterhaltungen oder in gesellschaftspolitischen Debatten fällt, wird ein psychologischer Kinofilm abgespielt. Schnell werden Geschichten erzählt. Es wird daran gedacht, wie Betroffene „herausgekommen sind“, wie sie sich überhaupt erst von den utopischen Schönheitsidealen haben leiten lassen und sich zum Fasten getrieben haben.
Dazu findet sich nicht selten eine bewegende Vorher-Nachher-Geschichte, die Magersucht (eigentlich Anorexia Nervosa) und nicht etwa bulimisches Verhalten oder Binge-Eating Störungen mit einschließt. Schnell werden die Modeindustrie, das Idealisieren von Stars, der Schönheitswahn verantwortlich gemacht. Unterhaltung beendet.
Diese Erklärung ist zu einfach
Doch gegen die Einfachheit dieser immer wieder abgespulten Erklärung spricht zu vieles. Laurie Penny bezeichnete eine Essstörung in ihrem Buch „Fleischmarkt“ als einen „privaten, gewalttätigen Ausdruck des kulturellen Traumas“ und listete auf, dass es sicherlich kein Zufall sei , dass die Anzahl von klinisch eingewiesenen jungen Männern und Frauen seit 1999 um 80 Prozent gestiegen ist und in Europa eine von 100 Frauen und einer von 1.000 Männern betroffenen ist. Ähnliches belegen Zahlen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).
Die Gründe für die Geschlechtsunterschiede sind unverkennbar. Patriarchalische Strukturen tragen dazu bei, dass betroffene Jungen und Männer sich meistens „melden“, also körperliche Schäden aufweisen oder von ihrem Umfeld zur Intervention gezwungen werden, wenn ihre Essstörung schon kognitive und/oder organische Schäden verursachen konnte.
Den sozialen Druck, den Jungen und Männer zu Beginn einer Erkrankung fühlen, fasst Jack Urwin in „Boy’s don’t cry“ treffend zusammen: „Da Essstörungen so eng mit Frauen assoziiert sind, kann es Männern, die darunter leiden, peinlich sein, Hilfe zu suchen, es könnte als entmannend gelten.“ Die Dunkelziffer ist also vermutlich sehr hoch.
Das Spiel mit der Angst
Die Ängste von jungen Frauen und Männern nicht gut genug, schön genug, nicht genug zu sein, werden von kapitalistischen Werbestrategien ignoriert, oder sogar ausgenutzt. Das Gefühl des Hunger-habens, das Essen selbst, werden als schwach dargestellt. So werden Schnell-Mahlzeit-Shakes beworben, die im Stehen getrunken werden können. Es bleibt schließlich mehr vom Tag, wenn man Zeit bei den Mahlzeiten spart. Schlankheit und Askese werden gleichgesetzt mit Stärke und Erfolg.
Frauen wird eine Anfälligkeit in diesem Kontext zugesprochen, öffentlich jedoch mit der Begründung der Selbstbestimmung abgewehrt – bei Männern, als potenzielle Risikoträger, stellt sich diese Frage nicht.
Ein weiteres Problem ist die Tatsache, dass die überbordernde Beschäftigung und Instrumentalisierung mit und von Ernährung pathologische Züge entwickelt. Dies geschieht damit, dass von Außen suggeriert wird, eine nicht vollständig pedantisch selbst kontrollierte und utopisch ayuverdische Ernährung wäre mit Verfall verbunden und Askese mit der intellektuellen und nachhaltigen „Szene“.
Faszination für Askese
Nicht die Askese, die Enthaltsamkeit, ist krankhaft, aber die ihr entgegengebrachte Faszination. Denn Askese hat, genau wie Völlerei, eine berauschende Wirkung, steht also in direktem Zusammenhang mit Emotionen und Wahrnehmung.
Essstörungen, auch Bulimia Nervosa und die Binge-Eating Störung, gehören den Emotionsregulationsstörungen an. Betroffene wollen sich, ähnlich wie Abhängige im Gebrauch von Drogen, mit den körperlichen Auswirkungen nach möglichst wenig beziehungsweise möglichst viel Nahrung von tief sitzenden psychischen Problemen entfernen, bewusst oder unbewusst.
Durch überholte Rollenbilder wird ein solches Verhalten bei einer Frau eher als abnormal und damit schnell als „magersüchtig“, bei einem Jungen zunächst als „Spinnerei“ oder „Abnormität“ gesehen. An Essstörung wird meist zu spät gedacht.
Doch die Debatte bezieht sich nicht auf eine Geschlechterungleichheit im Umgang mit Essstörung. Nein, dafür müsste es zunächst ein Fundament geben, dessen Grundstein nicht einmal gelegt worden ist. Die wirkliche Frage ist, wo gesellschaftspolitisch angesetzt werden muss, um den Kampf gegen Emotionsregulationsstörungen – speziell tödlichen psychischen Krankheiten, wie Essstörungen, konstruktiv beginnen zu können.
Kurz nach Veröffentlichung meines Buches „Luft nach Unten. Wie ich mit meiner Magersucht zusammenkam und mit ihr lebte.“ (Schwarzkopf&Schwarzkopf, 2019) fragte ein Großteil der interviewführenden Journalisten und Journalistinnen nach exakten Gewichtszahlen und dezimalzifferbestimmten Tiefpunkten meines Lebens. Eine größere deutsche Boulevardzeitung forderte ein Interview, das doch am besten mit einem Familienmitglied zu führen wäre. Das gewünschte Geschlecht dieses Familienmitglieds kann sich gedacht werden.
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Rolle der Medien
Klar, als erwachsener Mann frage ich lieber eine Familienangehörige, ob sie mich zu Interviews begleitet um nochmal genau zu erklären, wie das wirklich war. Als ich unter dieser Bedingung ablehnte, war das Interesse für einen themenspezifischen Artikel auf einmal verflogen. Der wahrscheinliche Grund dieses Anliegens stellt neben dem fast versessenen Interesse an konkreten Gewichtswerten und -maßen, auf entlarvende Weise die Mitschuld der Medienlandschaft (vor allem aber der Boulevard und Unterhaltungskultur) an der Ausbreitung von Essstörungen bei Frauen und Männern in der westlichen Welt dar.
Fernab von der Sinnlosigkeit der Idee, die Schwere einer solchen Erkrankung von Zahlen abhängig zu machen. Ein bestimmtes Gewicht kann für eine bestimmte Körpergröße eines bestimmten Geschlechts mit einem bestimmten Ausmaß an Muskeln durchaus normalgewichtig sein, könnte für eine Person mit völlig anderen Körpereigenschaften wiederum anorektisch sein.
Außerdem stellt sich die Frage, was solche konkrete Zahlen bezwecken, außer Material für fett gedruckte Überschriften oder Zitatquellen zu liefern. Diese Form der Berichterstattung rückt den Fokus weg von einer Störung, die als solche weder Geschlecht noch Alter kennt und unerkannt bleibt und untergräbt damit alle wertvollen Reportagen, Interviews, Leitartikel, seriösen Filme, Dokumentationen und Zeitungsbeiträge über die psychische Krankheit.
Mechanismus ist nicht kompliziert
Essstörungen wirken gerade durch ihre Stigmatisierung für Nicht-Betroffene weit weg. Dabei ist der Mechanismus dahinter gar nicht so kompliziert. Im Fall von Anorexia Nervosa kann das Hungern wie eine, für Betroffene, scheinbar sichere Basis beschrieben werden. Als Fluchtpunkt, wenn das Negativdenken zu stark auf das Bewusstsein einschlägt, die Überforderung schon im vollen Gange ist. Natürlich ist das eine kurzfristige und schädliche Lösung. Aber das beschränkte Denken konzentriert sich lediglich auf den, durch den Körper signalisierten Notzustand – da bleibt keine Zeit für „andere Probleme“. Eben ganz ähnlich wie bei Drogenabhängigen: Das Suchtdenken ist lediglich darauf ausgerichtet, schnell den Rauschzustand herzustellen, alles andere scheint egal. Durch das Hungern (oder Drogennehmen) bewegen sich Betroffene auf der Stelle, geraten in einen Teufelskreis, um den herum sich die Probleme und negativen Gedanken tummeln, sich vermehren und immer stärker auftürmen, so dass es schließlich zum sogenannten Break-Down kommt.
Sie geraten in einen Teufelskreis.
Das ist immer noch schockend. Aber gerade dieser Vergleich, das tiefere Eingehen auf das, was wirklich hinter dem Suchtcharakter einer Essstörung steckt verdeutlicht, dass eine Essstörung ein unbedingt geschlechterübergreifendes Problem ist und vor allem keine exklusive „Abnormalität“, sondern eine Form der schädlichen Emotionsbewältigung darstellt.
Die Darstellung der Hintergrundmotive, eine Skizze des „Warum“ schafft eine Brücke, die den distanzierenden Schock zur Seite kehrt. Sonst wird das menschliche Gefühl der Betroffenheit und Ratlosigkeit kommerzialisiert und mit Effekthascherei stigmatisiert. Deswegen werden Erkrankte, die nicht perfekt in dieses Raster passen möglicherweise überhaupt nicht gesehen und Betroffenen werden von der breiten Masse nicht gefragt, da ja alles schon erzählt – und für sehr traurig befunden wurde.
Brauchen keine Mitleidskultur
Wir brauchen aber keine Mitleidskultur. Was wir wirklich brauchen, ist eine gesellschaftlich umfassende Sensibilisierung für eine psychische Erkrankung, die sich (während wir noch über das eventuelle Gewicht und die dünnen Beinchen einer/eines Betroffenen spekulieren) weiter getarnt ausbreiten kann. Dabei vergessen wir die sinnvollste, wenn auch nicht ganz so abgefahrene, Maßnahme – nämlich Prävention, die schon bei einer geschärfteren emphatischen Wahrnehmung anfangen kann. Ohne Therapieausbildung oder schlimmer noch: Aufwand.
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Miriam
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