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Alles Liebe, Deine Incogito-Redaktion.
Ich wollte nicht mehr hungern
Ihr Perfektionismus hat Isa in eine Essstörung getrieben. Über Jahre hinweg fühlte sie sich, als würde sie sich am Rande einer Klippe befinden. Wie sie wieder zu sich gefunden hat und was ihr größter Akt der Befreiung war, beschreibt sie in ihrem berührenden Blogbeitrag.
Plötzlich sah ich mich
Es gab diesen einen Moment, in dem ich mich im Spiegel sah, mit zerrissener Haut, verfärbten Haaren und einem zerbrechlichen Körper. Ich saß auf dem Boden und hatte Schmerzen. Meine Sitzknochen stachen förmlich in die kalten Fliesen, so dünn war ich. Mein Magen tat weh. Ein Hungergefühl kannte ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Ich war ständig energielos. Es war, als wäre alle Lebendigkeit aus mir gewichen und hätte ein großes schwarzes Loch hinterlassen. Diese Leere machte mich wahnsinnig. Ich wollte nichts, mich interessierte nichts und fühlen konnte ich erst recht nichts. Mein Körper war zu konzentriert darauf, mich am Leben zu erhalten. Da war nicht mehr viel Kraft übrig, für so etwas wie Lachen oder Weinen. Bis dahin war alles in mir tot und still gewesen. Doch dieser Moment war anders. Plötzlich fühlte ich alles auf einmal und die Tränen kamen unaufhörlich. Es war eine überwältigende Trauer, die mich gleichzeitig motivierte. Ich hatte nicht mehr gewusst, ob ich überhaupt noch fähig war zu weinen. In diesem Moment realisierte ich, was ich da gerade durch das Hungern dabei war zu tun – und das wollte ich nicht.
Ich wollte Sicherheit
Alles was ich gewollt hatte, war wieder Sicherheit, Liebe, Bestätigung und das Gefühl, dass ich Leuten nicht egal bin, vor allem meiner Mutter nicht, die nur noch mit ihrem neuen Ehemann beschäftigt war. Irgendwie hatte ich gar nicht wahrgenommen, wie schnell und stark ich mich in nur einem Jahr verändert hatte. Es war, als würde sich der Filter, der über meinen Augen gelegen hatte, für einen kurzen Augenblick auflösen. Plötzlich war es mir möglich, meine zittrigen Beine, das fahle Gesicht und die kahlen Stellen auf meiner Kopfhaut wahrzunehmen.
Ich fühlte mich einsam
An diesem Punkt fühlte ich mich so unglaublich einsam. Ich war so dünn wie noch nie, hatte all die Ziele, die ich mir gesetzt hatte, erreicht und war trotzdem unglücklich und ausgelaugt. Die Essstörung hatte mich buchstäblich aufgefressen, körperlich und seelisch. Ich wusste, dass ich diese Einsamkeit selbst gewählt hatte. Es war mir bewusst, dass ich dieses Verhalten wieder umstellen konnte, auch wenn ich es schon so lange hatte. So, wie ich es damals doch auch von einem gesunden Umgang mit Essen zur Selbstzerstörung mit dessen Hilfe umgestellt hatte. Es war meine eigene Wahl, die ich zu jedem Zeitpunkt treffen konnte. Niemand würde sie mir abnehmen können, auch wenn ich es mir so sehr gewünscht hatte.
Alles ging schief
Ich weiß gar nicht mehr genau, wann der Tag war, an dem ich entschieden habe, dass ich alles dafür tun würde, perfekt zu sein. Irgendwie passte dieser Gedanke damals so gut in mein Leben. Alles ging schief. Meine Freunde waren nur noch am Feiern. Meine Mutter hatte einen Mann aus einem anderen Land geheiratet, mit dessen Mentalität ich mich sehr schwer tat. Da sie mich von einem Tag auf den anderen total vernachlässigte, musste ich mich auf einmal komplett um mich selbst kümmern. In meiner Heimatstadt fühlte ich mich unwohl und sehnte mich nach einer Familie, die intakt war und in der ich mich sicher und geliebt fühlen konnte.
Meine „tolle“ Idee
Ich suchte also etwas, um weiterhin zu funktionieren. Das war der Gedanke an diese perfekte Rolle, die ich mir selbst zusammenbastelte und von nun an spielen wollte. Meine Idee war, dass selbst wenn ich bestimmte Aspekte meines Lebens nicht beeinflussen kann, ich trotzdem einige kontrollieren und somit perfektionieren kann. Das war zum einen meine schulische Leistung und zum anderen mein Körper. Vielleicht kennst du diese Gedanken, dann findest du hier Rat und Unterstützung.
Es war alles berechenbar.
Fortan investierte ich viel Energie und Zeit in Lernen, ich schrieb gute Noten, mein Selbstwert stieg. Eine ähnliche Gleichung ergab sich im Bezug auf meinen Körper: Eine gewisse Anzahl an Kalorien, so und so viele Minuten auf dem Crosstrainer, die gewünschte Kilometerzahl auf dem Laufband und das Ganze eine bestimmte Anzahl an Stunden pro Tag: Am Ende zeigte die Waage ihr Ergebnis. Es war alles berechenbar.
Die Konsequenzen
Was ich nicht berechnen konnte, vernachlässigte ich. Es machte mir zu viel Angst. Ich konnte diese Ungewissheit nicht ertragen. Würden mich meine Freunde von einem Tag auf den anderen fallen lassen? Würde ich wieder verletzt werden? Ich konnte nicht kontrollieren, was die Leute zu mir sagen oder wie sie sich mir gegenüber verhalten würden und blendete persönliche Beziehungen mehr und mehr aus. Ich hatte mir meine kleine, sichere Kapsel erschaffen, die aus Regeln bestand, die ich unbedingt befolgen musste.
Ich hatte mir meine kleine, sichere Kapsel erschaffen.
Das hieß, ich stand so früh wie möglich auf, bereitete mir ein möglichst kalorienarmes Gericht zu, investierte viel Zeit in mein Erscheinungsbild, aß eine Hand voll Obst und raste dann wie eine Irre mit dem Fahrrad zur Schule.Es mussten ja frühmorgens schon möglichst viele Kalorien verbrannt werden. In der Schule spannte ich, während ich auf meinem Stuhl saß, so oft wie möglich einige Muskelpartien an, während ich parallel dazu versuchte, dem Unterricht zu folgen, mich möglichst oft zu melden und nebenbei die Hausaufgaben für die kommenden Tage zu erledigen. Generell musste ich immer auf alles vorbereitet sein, da mich sonst die Angst davor überkam, nicht gut genug zu sein und aus der Fassung gebracht zu werden. Diese „Fassung“ war mein Ein und Alles und musste unbedingt bewahrt werden.
Sowas esse ich gerade mal zur Vorspeise!
Oft fühlte ich mich an den Rand dieser Selbstkontrolle getrieben. Es war als stünde ich am Rand einer Klippe voller Panik, meine unterdrückten Gefühle nicht mehr zurückhalten zu können und damit bildhaft herabzustürzen. Bereits nach der zweiten Schulstunde bekam ich einen beißenden Hunger, der mich bis zur Mittagspause nicht mehr losließ. Wenn ich dann die zweite Hälfte meines Frühstücks zum Mittagessen aß und meine Freunde Kommentare abließen wie: „Sowas esse ich gerade mal zur Vorspeise! Wieso kombinierst du alles so komisch und warum bist du so penibel mit deinem Essen?“ , fühlte ich mich dahingehend bestätigt, dass ich genug tat, um nicht so reinzuhauen und „außer Kontrolle zu sein“ wie die Anderen. Wenn sie mir sagten, wie dünn ich doch sei und wie extrem es mittlerweile sei, war ich zufrieden. Nach einem restlichen Tag voller Sport, Lernen und der genauen Kalkulation meiner Kalorien fiel ich schließlich völlig fertig ins Bett.
Die Folgen meines Wahns
All das eskalierte ziemlich schnell und ich wurde trotz guter Noten und dem Gewichtsverlust immer verbissener. Jetzt im Nachhinein fällt mir auf, dass ich keine Ahnung hatte, was ich mir da gerade wirklich antat. Wie schnell meine Gedanken von Selbsthass erfüllt und mein Verhalten zwanghaft wurde. Wenn ich bestimmte Ziele nicht erreichte, zum Beispiel eine gewisse Anzahl an verbrannten Kalorien pro Tag, wurde ich panisch. Ich musste mir alles erst verdienen, sei es ein Apfel oder ein Schluck Wasser. Vor allem Liebe musste sich erarbeitet werden. Das tägliche Kalorienziel wurde niedriger, die Minutenanzahl, die ich mit dem Fahrrad zur Schule brauchte, musste jeden Tag wenn möglich getoppt werden und auch meine Erwartungen in Hinsicht Noten wurden höher geschraubt.
Chaos um mich herum
Um mich herum entstand mehr und mehr Chaos. Manche Leute reagierten sehr gereizt auf mich, weil sie mich nicht verstanden und sie meine ehrgeizige Art provozierte. Am Ende waren sie, glaube ich, einfach überfordert und wussten nicht, wie sie mir hätten helfen können. Diese Reaktionen bestärkten mich jedoch nur noch mehr darin, mich weiter zurückzuziehen. Ich fühlte mich unverstanden. Infolgedessen sank mein Selbstwert noch mehr, da ich mir einredete, dass mich sowieso niemand liebe, was natürlich nicht der Fall war, wie mir heute bewusst ist. Folglich fand ich mich in einem Kreislauf aus Hungern, dem Konsumieren von Massen an Essen und dem anschließenden Versuch, das Gegessene wieder loszuwerden, wieder. Derweil wollte mein Körper doch nur endlich Nahrung, um sich zu regenerieren. Doch für mich waren die Essattacken Angriffe seinerseits, da sie doch bewirken würden, dass ich zunahm.
Ich fühlte mich unverstanden.
Diesen Teufelskreis zu durchbrechen, brauchte unglaublich viel Willensstärke. Dem Hunger nachzugeben und mich anderen Menschen zu öffnen, nachdem ich Jahre in Selbsthass und mit der Angst vor anderen Menschen verbracht hatte, fiel mir nicht leicht. Auf der anderen Seite war es so eine Erlösung, endlich essen zu können, nicht mehr eine der Besten sein zu müssen und loslassen zu dürfen. Es ging dabei gar nicht so sehr darum, sich für die Heilung zu entscheiden. Es ging darum, sich für das Leben an sich zu entscheiden, in dieser Welt mit diesem System. Ich hatte mich so lange verstecken wollen, da mich das alles zu sehr überwältigt hatte. Weder hatte ich mir zugetraut, mein Abitur zu machen, noch einmal für mich selbst zu sorgen. Demzufolge glaube ich, dass ich mich durch meine Essstörung gegen alles, was mir Angst machte, wehren wollte und sie als einen Fluchtweg nutzte, um nicht so viel über meine Realität nachdenken zu müssen.
Ich durfte loslassen
Meine Lösung nach diesem Moment, in dem ich mich das erste Mal seit langem so richtig im Spiegel gesehen hatte, war also, das genaue Gegenteil von dem zu tun, was bisher meine „Überlebensstrategie“ war. Anstatt zu hungern, aß ich. Anstatt mich zu isolieren, ging ich auf Reisen und sprach Leute an, schloss Freundschaften. Ich versuchte alles, um den Fluchtweg „Essstörung“ nicht mehr zu brauchen.
Es gab Rückschläge und Menschen verletzten mich. Ich bereute, wozu ich mich entschieden hatte und doch wusste ich, dass die Alternative keine Option mehr war. Ich ließ mich zunehmen und sah es als Teil des Heilungsprozesses. Außerdem achtete ich darauf, viel mit Menschen zu unternehmen, die mir wirklich guttaten, die gesund waren, damit ich mich von ihnen inspirieren lassen und mir abschauen konnte, wie das „normale Leben“ ist. Nach und nach nahm ich mehr Rücksicht auf mich, auch wenn es mir schwerfiel.
Mein Bauchgefühl schrie mich an
Als ich beispielsweise 2017 anfing zu studieren, wollte ich mich wieder in eine Rolle quetschen und versuchte alles dafür zu tun, wieder die Kontrolle zu haben. Ständig hatte ich das Gefühl, dass sich alles wiederholte und sank dabei tiefer und tiefer in ein Loch. Mein Bauchgefühl schrie mich förmlich an, dass dies nicht der richtige Weg war. Doch es war gut, dass das alles passierte, denn so wurde mir klar, dass ich bestimmte Ideale noch nicht losgelassen hatte und mich noch nicht wirklich selbst lieben und so akzeptieren konnte, wie ich war.
Der größte und wichtigste Schritt meiner Genesung
Also beschloss ich nach zwei Semestern mein Studium abzubrechen. Mein erster großer Akt der Selbstliebe, der endlich mal fällig war. Das Ausmaß der Freude, die ich die zwei Wochen nach meinen Abbruch gespürt hatte und wie jede Zelle meines Körpers mich förmlich dafür feierte, dass ich mich dafür entschieden hatte, war genug Bestätigung. Das war der größte und wichtigste Schritt meiner Genesung, denn dadurch fing ich an, Dinge FÜR mich zu tun und es mir wert zu sein.
Das Leben heute
Heute gibt es noch oft Situationen, Tage und sogar Wochen, in denen ich komplett überfordert bin. Dann tendiere ich dazu, wieder an meinem Wert zu zweifeln und in alte Gedanken- und Verhaltensmuster zu fallen. Nun kann ich jedoch auf meine Sensibilität mehr Rücksicht nehmen. Dennoch ist es noch ein weiter Weg, bis ich voll und ganz psychisch stabil bin. Eine Therapie werde ich bestimmt noch machen, da mir noch einige Ängste geblieben sind. Doch ich kann ehrlich von mir sagen, dass ich die Essstörung losgelassen habe.
Auf diese Weise kann ich frei sein und Gutes für mich tun, anstatt ständig gegen mich zu kämpfen. Diesen Kampf habe ich freiwillig verloren. Dafür werde ich mir für immer dankbar sein.
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Mandy Phan
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