Wenn’s Zuhause nicht mehr geht: In einer WG für Menschen mit Essstörungen?
Nach ihrem Klinikaufenthalt 2022 entschied sie sich, in eine WG zu ziehen – eine Entscheidung, die für Julia zur Notwendigkeit wurde. In der WG fand sie die nötige Unterstützung, um sich ihrer Essstörung zu stellen, und erlebte erstmals Verständnis für ihre persönliche Situation. Der Abstand zu Julia’s Familie, besonders zu ihrem empathielosen Vater, war entscheidend, um endlich Heilung und Respekt zu erfahren.
Als mir 2022 während meines stationären Klinikaufenthalts dringend empfohlen wurde, nach meiner Entlassung direkt in eine WG zu ziehen, stand ich vor einer unerwarteten, sehr spontanen Entscheidung. Doch im Prinzip hatte ich keine Wahl. Für mich gab es nur die eine Option: WG. In erster Linie musste und wollte ich den Abstand zu meiner Familie gewinnen, vor allem meinem Vater. Seit vielen Jahren litt ich physisch wie psychisch unter der prekären Familiensituation. Der Einzug in eine WG war DIE Chance. Am meisten hatte mich bereits damals motiviert, dass ich im Kampf gegen meine langjährige Essstörung Unterstützung bekomme.
Sei es in Situationen, in denen ich meiner Essstörung bewusst oder unbewusst zu viel Raum gebe. Es gibt immer Ansprechpartner:innen, die ich um Hilfe bitten kann. Außerdem fühle ich mich in der WG mit meiner Krankheit nicht so allein, weil die Mitbewohnerinnen ähnliche Probleme haben und aufgrund dessen, Verständnis zeigen. Zuhause bin ich mit meiner Essstörung nie wirklich ernst genommen worden. Das Miteinander in der WG war ein weiterer Grund, der mich dazu gebracht hat einzuziehen. Zuhause hat das nicht funktioniert, weil mein Vater vor niemandem wirklich Respekt hat und in keinerlei Hinsicht Empathie für andere zeigt.
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Aller Anfang war… für mich nicht schwer!
Um ehrlich zu sein, fiel es mir keineswegs schwer von zuhause auszuziehen. Lange hatte ich auf diesen Tag gewartet, denn immer häufiger und extremer kam es zum Streit zwischen meinen Eltern, die letztlich kaum noch zuhause waren und wenn, dann war es immer sehr laut (…). Ich hatte während der Zeit, in der ich in der Klinik war, eine Probeübernachtung in meiner zukünftigen WG, um zu schauen, ob ich mir das Konzept und den Alltag dort vorstellen kann. Damals am 15.07.2022 bin ich dann direkt eingezogen, ohne nochmal zuhause gewesen zu sein. Ich weiß noch sehr genau, dass sich am Anfang alles surreal – im Positiven – angefühlt hat. Obwohl ich den WG-Platz schon so gut wie safe hatte, kam in mir immer wieder die Angst auf, dass ich vonseiten der WG aus etwaigen Gründen doch nicht einziehen kann. Ich dachte, dass man nur sehr schwer in eine WG dieser Art kommt. Ich fühlte mich dafür viel zu „gesund“, ganz nach dem Motto „anderen geht es ja viel schlechter“. Ich kann mich kaum noch an die ersten Tage erinnern, zu schnell hatte ich mich eingelebt und wie zuhause gefühlt – ohne täglich Angst vor Gewalt haben zu müssen. Ich weiß, dass es an einem der ersten Tage ein Curry gab und ich es superlecker fand. Als ich einzog, stand eine Mitbewohnerin kurz vor ihrem Auszug. In den drei Tagen, in denen ich sie kennengelernt hatte, ist sie zu einer großartigen Freundin geworden. Wir haben bis heute Kontakt. Das ist das Schöne. Man knüpft neue Freundschaften mit Menschen, die sehr viel Empathie und Verständnis haben, zuhören können und auf die auch in Krisensituationen Verlass ist. Natürlich ist ein so harmonisches Miteinander nicht der Standard und hin und wieder kommt es zu Konflikten. Das gehört dazu. Eine WG-Gruppe ist ohnehin nicht konstant, weil Bewohner ein- und ausziehen.
Der Weg in eine Wohngemeinschaft für Menschen mit Essstörungen
Veränderungsmotivation – die wichtigste Voraussetzung für den Einzug in eine WG, die auf bestimmte Krankheitsbilder spezialisiert ist. Ohne den eigenen Willen zur Genesung bringt die beste Unterstützung nichts. Meine WG bietet Plätze für Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 14 bis 27 Jahre, wobei im Ausnahmefall davon abgewichen werden kann. Eine Bewohnerin war bei ihrem Einzug beispielsweise erst 13 Jahre. Aktuell ist meine WG eine reine Mädchen-WG, bezieht sich theoretisch aber auf beide Geschlechter gleichermaßen. Weitere Voraussetzungen sind das Bestehen einer der diagnostizierten Essstörungen Anorexia nervosa, Bulimia nervosa oder Binge-Eating-Disorder sowie ein BMI zwischen 17,5 und 40. Zudem muss das zuständige Jugendamt eine Kostenzusage erteilen. Je nach Spezialisierung der WG können sich die Voraussetzungen in ein paar Punkten unterscheiden. Ich kann jedem, der mit dem Gedanken spielt, in eine WG zu ziehen, empfehlen: Traut Euch, recherchiert, ruft an oder schreibt eine E-Mail, denn es lohnt sich und kann wortwörtlich Leben zum Besseren verändern. Wie in meinem Fall.
Selbstakzeptanz als großes Ziel: Der Fokus meiner WG-Zeit
Meine WG hat sich zum Ziel gesetzt, die Persönlichkeit und die Selbstakzeptanz der Bewohner:innen zu stärken, denn hier beginnt der Weg aus der Esstörung. Wir gehen ihn nicht für andere, sondern für uns selbst. Des Weiteren soll das Essverhalten normalisiert und ein gesundes Verhältnis zum Essen wiederhergestellt werden. Dafür wird an langfristig hilfreichen Lösungsstrategien gearbeitet, welche bereits vorhandenen oder aufkommenden Ängsten und Zwängen entgegenwirken. Während der physische und psychische Gesundheitszustand stabilisiert werden soll, gilt es vor allem, den Bewohner:innen einen Ort zu bieten, an dem sich ein Gefühl von Sicherheit entwickeln kann – sei es in Bezug auf das Elternhaus oder die Essstörung. In meiner WG ist Platz für 14 Bewohner:innen, die sich auf zwei WGs aufteilen. Ein besonderer Fokus liegt auf dem gemeinsamen Kochen in wechselnden Kochteams sowie der gemeinsamen Mahlzeiteneinnahme, die durch Sozialpädagogen begleitet wird. Letztere bieten bei Bedarf natürlich auch individuelle Einzel- und Gruppengespräche an. Es gibt eine 24/7 Betreuung, also auch immer einen Nachtdienst. Neben wöchentlichen Wiegekontrollen erhält jede Bewohnerin einen individuellen Ernährungsplan und hat eine Bezugsbetreuerin, mit der wir verschiedene Themen besprechen können. Zum Team gehören eine Ernährungstherapeutin und eine Psychologin, die eine individuelle Unterstützung anbieten. Das hausinterne therapeutische Angebot wird durch ambulante Therapien ergänzt.
Fast wie zuhause: Alltag und Freizeit in der WG
Neben gemeinsamen Tagesausflügen wie Bowlingspielen oder Schwimmengehen, machen wir jedes Jahr eine mehrtägige Ferienfahrt. Auch hier können wir Vorschläge einbringen, wo es hingehen soll. Dieses Jahr verbrachten wir die Zeit in der Nähe von Kiel und Lübeck an der Ostsee. Nach individueller Absprache sind regelmäßige Beurlaubungen und Besuche von Freunden sowie der Familie möglich. Oft gehen Bewohnerinnen gerne auch zusammen in die Stadt zum Shoppen, zu Veranstaltungen oder ins Kino. Fast wie zuhause eben. Manche gehen zur Schule, Studieren, machen eine Ausbildung oder ein Praktikum.
Persönliche Entwicklung: Die Wohngemeinschaft als starke Unterstützung
Ich wohne aktuell seit über zwei Jahren in der WG, habe viel gelacht, geweint, gelebt. Von den Vorstellungen und Zielen, die ich nach meinem Einzug hatte, habe ich schon einiges erreicht. Ich habe angefangen, Leistung einen geringeren Stellenwert zu geben, Hobbys nachzugehen, Zeit mit Freunden zu verbringen, feiern zu gehen, Konzerte zu besuchen und generell ein ganzes Stück weiter vom Überleben wegzukommen. Ich bin im Normalgewicht, hatte die Kraft einen Schwimm- und Skikurs zu absolvieren und arbeite aktuell in einem Eiscafé. Seit Monaten zähle ich keine Kalorien mehr und stelle mich „Fear Foods“. Die Angst vor dem Essen ist weniger und viel seltener geworden. Und doch bin auch ich noch nicht am Ziel. Schließlich ist der Weg der Recovery ein langer und vor allem schwerer Weg, den jeder für sich gehen muss. Eine WG kann uns „nur“ dabei unterstützen und begleiten, um es einfacher zu machen. Gehen müssen wir unseren Weg letztlich selbst.
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