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Quelle: Pexels: Anna Tarazevich

Hands off! Corona und der Verlust von Berührungen

Beitrag aus der Redaktion

@in_cogito.de

Ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich in den letzten fünf Monaten, seit Beginn der Corona-Pandemie, einem anderen Menschen die Hand geschüttelt oder jemanden umarmt habe. Ich vermisse das! Erst seitdem körperlicher Kontakt zu anderen Menschen ungewollt, fast verpönt ist, wird mir bewusst, wie körperlich ich eigentlich im Umgang mit meinen Freunden bin. Jedes Mal wenn ich eine gute Freundin treffe, umarmen wir uns.

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Ich vermisse das!

Meine beste Freundin, die elf Jahre jünger ist als ich und für mich wie die kleine Schwester, die ich nie hatte, küsse ich gern auch mal auf die Wange oder den Kopf und drücke sie, wenn wir uns länger nicht gesehen haben, ganz fest an mich.

Seit Corona ist das alles vorbei

Meine eigene Mutter kann, beziehungsweise  sollte ich nicht umarmen wenn wir uns mal treffen. Ich möchte mir keine Vorwürfe machen müssen, sollte sie krank werden.

Die Begegnung mit anderen Menschen bringt nun jedes Mal diesen Moment der Peinlichkeit mit sich, in dem man unsicher ist WIE man sich nun begegnet. Umarmung geht nicht, Hände schütteln ist tabu.

Meine Therapeutin und ich begrüßen und verabschieden uns inzwischen mit einem buddhistischen „Namasté“: die Handflächen auf Höhe der Brust zusammengelegt und mit einer kleinen Verbeugung dann Richtung Kopf geführt. Ich finde diese Geste sehr schön, sie hat so etwas respektvolles, auch wenn es sich noch ungewohnt anfühlt. Neue Gewohnheiten brauchen halt so ihre Zeit.

Corona hat, zumindest in der ersten Zeit während des „Lockdowns“ meine Depression und allgemeine Angst verstärkt.

Ich bin Single und wohne allein. Ohne meinen Hund wäre ich während der ersten, sehr strengen Wochen hier in Bayern, vermutlich gar nicht mehr rausgegangen.

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Es ist nicht dasselbe

Ja, okay, da war noch das Telefon und Skype und die Menschen, mit denen ich mich regelmäßig online auf der Spielkonsole treffe und mich unterhalte – aber das ist eben doch alles nicht dasselbe, wie der direkte zwischenmenschliche Kontakt.

Die Hand, die einem gereicht wird oder die man selber reichen möchte, zur Hilfe, zum Trost; die Schulter zum Anlehnen – all das ist erstmal nicht mehr. Ob es wiederkommt, ist fraglich, da unser tägliches Umfeld, unser Umgehen miteinander sich bereits gewandelt haben.

Wir gehen alle immer mehr auf Distanz zueinander. Uns trennen „Spuckschutz“-Wände, Masken und „sozialer Mindestabstand“. Alle Formen des virtuellen Aufeinandertreffens gewinnen immer mehr an Bedeutung.

Ich hoffe weiter.

Ich hoffe weiter. Auf die Rückkehr der Umarmung, auf die Wiedergeburt des Handschlags, darauf, dass der körperliche Austausch von Zuneigungs- und Respektsbekundungen wieder möglich sein wird. Nicht nur unter Gesundheitsrisiko und mit schlechtem Gewissen, sondern ganz öffentlich, ohne dass das strenge Stirnrunzeln und Kopfschütteln provoziert.

Wir werden sehen, was die Zukunft diesbezüglich für uns alle in ihren (desinfizierten) Händen halten wird.

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Clemens

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Quelle: Pexels/Cottonbro

Warum mein Bruder als Autist besser kommunizieren kann als andere

Beitrag aus der Redaktion

@in_cogito.de

Ich bin froh, dass mein Bruder nicht sprechen kann, denn sonst wäre er nicht der, der er ist. Mein Vater glaubt, dass sein Leben nicht lebenswert ist, weil er nicht mit dem Mund und der Zunge sprechen kann, aber ich glaube das nicht. Ich sehe, wie sein Gesicht zu einem strahlendem Lächeln aufblüht, und weiß, dass sein Leben, dass er selbst wunderbar und wertvoll ist. Autisten tun sich schwer mit der Kommunikation mit neurotypischen Menschen. Das liegt aber nicht daran, dass sie nicht kommunizieren könnten, sondern dass wir neurotypischen Menschen ihnen nicht die richtige Umgebung, die richtigen Mittel zugestehen.

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Es geht viel tiefer

Deswegen bin ich froh, dass mein Bruder nicht mit Mund und Zunge spricht. Denn sonst wäre er nicht er selbst und hätte nicht seine eigene Art der Kommunikation entwickelt. Eine Art der Kommunikation, die viel  tiefer ist, als Worte es jemals ausdrücken könnten. Er bildet Worte mit seinem Zeigefinger, und kommuniziert nonverbal, also ohne Worte, mit seinen Händen, seinen Armen, seinem ganzen Körper, seinen Augen, seiner Mimik und auch mit seinem Mund. Warum ist es so wichtig, ober er jetzt Worte mit seinem Mund formen kann oder nicht?

Klar, er hat es sehr schwer, in einer Welt, die rein auf verbale Sprache ausgelegt ist. Aber ich sehe die Lösung nicht darin, ihn um jeden Preis das Sprechen beizubringen oder sein Leben für nicht lebenswert zu erklären. Ich wünsche mir stattdessen, dass sich die Welt dahin verändert, dass nonverbale Kommunikation genauso einen Raum bekommt wie gesprochene Worte.

Setzt mich nicht unter Druck.

Mein Bruder kann ohne Worte „Ich liebe dich und bin glücklich, dass du bei mir bist“ sagen, oder „Darf ich von deinem Joghurt essen?“ oder auch „Jetzt nicht, ich brauche Raum für mich“. Welcher neurotypische Mensch kann das schon von sich behaupten? Ich finde, seine Art zu kommunizieren ist die weitaus ausgereiftere Art und benötigt mehr kommunikative Fähigkeiten. Als jemand, die ständig anderen Menschen zuhört, finde ich auch, es ist die angenehmere Art. Seine Kommunikation drängt sich nicht auf, zwingt mich nicht, setzt mich nicht unter Druck. Es ist ein Angebot und ich bin mehr als glücklich, dieses Angebot anzunehmen. Wir können so Nähe und Verbundenheit schaffen, ohne Druck, Bewertung oder Angst, nicht genug oder zu viel zu sein.

Deshalb glaube ich, dass bessere kommunikative Fähigkeiten hat, als die meisten neurotypischen Menschen.

Schreib uns

Jil

Fühlst du dich manchmal überfordert?

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Quelle: Pexels/Cottonbro

Bei Hitze nicht durchdrehen: Schweinehundstage

Beitrag aus der Redaktion

@in_cogito.de

Die Sonne scheint in München, Temperaturen über 30°C, alles blüht, alle Menschen suchen die Natur auf, gehen spazieren und sonnen sich im Englischen Garten. Sie essen Eis, baden im Eisbach. Alles scheint so sommerlich, angenehm, friedlich.

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Quelle: Pexels/Anouar OlhQuelle: Pexels/Anouar OlhEs ist Sommer – für viele eine wunderschöne Jahreszeit, Urlaub und Ferien, Hitzefrei in der Schule, Freibäder haben geöffnet, die Tage sind lang. Auch ich empfinde den Sommer als einzigartig, als Geschenk von Mutter Erde – genau so wie auch die anderen drei Jahreszeiten. Gleichzeitig ist vor allem der Sommer für mich aber auch eine sehr schwierige und unangenehme Zeit, zumindest aktuell.

Die Tage kochen vor hohen Temperaturen und die Nächte kühlen sich gar nicht richtig ab, das Schlafen ist sehr schwierig. Ab mittags halte ich die Fenster komplett geschlossen, damit sich mein WG-Zimmer im vierten Stock nicht so sehr aufheizt.

In der Küche steht die Hitze

Auch in unserer Küche steht die Hitze und Kochen ist wirklich schweißtreibend. Es ist so warm, dass ich fürchte der Kühlschrank könnte abtauen, wenn ich die Tür öffne. Was mich außerdem davon abhält ihn zu öffnen, ist, die Tatsache, dass er wegen meines Kauf- und Hortzwangs sehr vollgestopft ist. Dass er deshalb außerdem an einigen Stellen vereist ist, erschwert das Öffnen zusätzlich.

Ich schäme mich

Ich schäme mich für meinen Kühlschrank – dafür, dass er so voll ist und ich es aktuell noch nicht auf die Reihe bekomme, die Vorräte aufzubrauchen und nicht ständig alles nachzukaufen. Schuld und Scham nähren meinen inneren Kritiker. Genauso groß ist mein innerer Schweinehund, der mir einredet, dass ich es eh nicht schaffe mich zu ändern. Ich arbeite daran und auch an meiner Einstellung zur Hitze, denn aufgeben kann jeder und wenn ich nichts tue und mich nur schlecht rede, kann es ja nicht besser werden.

Wie ein Hefekloß…

Aktuell fühle ich mich bei warmen Temperaturen nämlich so, als würde ich aufblähen wie ein Hefekloß. Für mich, als jemand, der von einer Essstörung und anderen psychischen Erkrankungen betroffen ist, ist das ein immens unangenehmes Gefühl. Körperekel und Selbsthass steigen stark an. Ich koche innerlich wie äußerlich vor Unwohlsein.

Meistens, wenn ich dann rausgehe, weil es in der WG einfach nicht mehr auszuhalten ist, bin ich nur noch mehr genervt. Ich laufe zum Beispiel durch die Münchner Innenstadt, den Englischen Garten, gehe einkaufen oder ähnliches und die Menschenmassen sind mir einfach zu viel. Nach diesen Ausflügen fühle ich mich dann meistens noch schlechter.

Aber ich arbeite daran. Etwa seit Frühjahr diesen Jahres sind meine Körpersignale endlich wieder da. Ich kann selbst empfinden, was, wie viel, wann, wo, ob ich dieses oder jenes esse und genau so wann und ob ich satt bin. Ich erlaube mir alles und kann auch aufhören, wenn ich keinen Hunger mehr habe.

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Körperekel hinter mir lassen

Ich versuche, nicht zu verzagen bei der Hitze. Versuche auch den inneren Kritiker, den Körperekel, den inneren Schweinehund und all das, was mich sonst noch so belastet, hinter mir zu lassen. Oder wenigstens neben mir, wo sie weiter meckern und ich mich trotzdem auf mich fokussiere. Auf das, was GUT läuft, was es SCHÖNES und BEZAUBERNDES gibt.

Der Sommer ist einfach ein Geschenk, genau wie Wasser oder was auch immer. Wenn wir immer nur das in Vordergrund stellen, was schlecht ist und was wir nicht können und uns davon runterziehen lassen und uns immer nur schlecht reden, dann kann es auch nicht besser werden.

Genießt den Sommer und all das, was er und ihr selbst zu bieten habt!

Hefeklöße sind  auch ganz lecker…

Schreib uns

Katrin

Kämpfst du auch mit deinem inneren Schweinehund?

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Mein Weg aus der Essstörung: Jetzt will ich anderen Mut schenken

Quelle: privat

Jenny, 26

Ihre vier Klinikaufenthalte hat Jenny nicht in der besten Erinnerung – rückblickend hat jeder einzelne davon ihr jedoch geholfen, ihre Essstörung loszulassen. Ihren Weg möchte sie teilen, um anderen Mut zu machen.

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Heute

Ich sitze an dem Arbeitsplatz in meinem Zimmer, den Laptop aufgeklappt und tippe die ersten Worte ein. Letztes Semester, Abschlussarbeit. Mein grobes Thema: Die Bedeutung einer guten Nachsorge bei essgestörten Patientinnen und Patienten. Während ich schreibe, bemerke ich den Kloß in meinem Hals. Nicht ohne Grund habe ich speziell Essstörungen in den Fokus meiner Arbeit gestellt. Ich bin keine, die viel recherchieren muss. Die vor lauter Fachbegriffen nicht weiß, worauf sie Bezug nimmt. Oh doch, das weiß ich – nur zu gut. An meinen Füßen hockt der kleine Mischling einer Freundin, neben mir steht eine Tasse Tee und wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich weit draußen die einmalig schöne Silhouette meiner Heimatstadt. Dass ich heute, jetzt hier so sitze, war nicht immer klar. Ich schließe die Augen und denke zurück an eine Zeit, die mir immer so vorkommt, als hätte ich sie nicht selbst erlebt.

Irgendwas ist mit dir

„Irgendwas ist mit dir.“ So ging es los und so nahm es seinen Lauf. Ich startete gerade in die Sekundarstufe II (die Jahre vor dem Abitur), als meine Mutter mich ansprach. Ich sei so verändert, zurückgezogen. Einige Monate später kam zum ersten Mal das Wort „Essstörung“ durch eine Therapeutin ins Spiel. Ich bemerkte, dass ich launischer war und selbstverständlich wusste ich auch, dass es mit dem Essen zusammenhing. Als ich mitten in den Vorbereitungen für die Abschlussprüfungen steckte, lernte ich einen tollen Mann kennen und versprach mir durch ihn und seine Liebe wieder mehr zu mir und meinem alten fröhlichen „Ich“ zurückzufinden. Er gab mir Kraft, Vertrauen und ein warmes Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit. Dennoch schaffte auch er es nicht, alle anderen Gedanken in meinem Kopf wegzupusten. Nach dem Abitur wollte ich durchstarten und bemerkte, wie ich an meinem Berufswunsch scheiterte. Für mich war es sehr schwer, mit Verlusten und großen Entscheidungen umzugehen. Durch diese für mich sehr bedeutende Niederlage fühlte ich mich zurückgeworfen. Die große Frage „Was möchte ich eigentlich im Leben machen?“ stand im Raum, und ich konnte sie nicht beantworten. Zweifel und Unsicherheiten bezüglich der Zukunft machten sich in mir breit. Zudem wurde mein Verhältnis zu Essen wieder schlechter und ich zog mich zurück. Nicht nur meine Stimmung, sondern auch die Beziehung litt darunter. Einen Plan, wie ich die Kurve bekomme, hatte ich nicht. Ich ließ mich hängen und wollte ausbrechen. Es war einfach zu viel. Und zum ersten Mal begann ich, meiner Essstörung einen größeren Raum als je zuvor zu geben.

Das Thema Klinik kommt auf

Mich beschäftigte der Gedanke, fort zu wollen. Ich fühlte mich unverstanden. Ständig wurden die Essstörung und meine Wesensveränderung thematisiert, doch das brachte mich nur mehr gegen meine Familie und meinen Freund auf. Mit Sicherheit war es auch für sie nicht einfach. Aber das sah ich damals nicht. Ich fühlte mich unter Druck gesetzt, in der Beziehung zu funktionieren, meine Eltern nicht durch mein Essverhalten zu verletzen und allen gut gemeinten Ratschlägen Folge zu leisten. Als mir all das zu viel wurde, wäre ich gerne einige Wochen nur für mich gewesen. So entstand der Gedanke, nach Kliniken zu suchen. Im ersten Moment erhoffte ich mir davon einfach nur eine Auszeit. Wie sehr ich durch die Essstörung gezeichnet war, wie schlecht es mir tatsächlich mental und physisch ging, das sah ich nicht. Meine Krankheitseinsicht war gleich Null. Meine Werte beim Arzt waren alle im gesunden Rahmen. Ich verdrückte auch mal eine Pizza und erbrach mich nicht danach. Ich zerstückelte mein Essen nicht. War ich überhaupt „krank genug“ für eine Klinik? Der Gedanke nagte sehr an mir und ich hungerte, um mir meinen Aufenthalt auch verdienen zu dürfen. Was zunächst wie eine Flucht, eine Befreiung erschien, schnürte mir letztlich nur noch mehr die Kehle zu. So bescheuert, so dumm, aber das waren die verdammten Tücken meiner Essstörung. Eine gute Freundin unterstützte und bestärkte mich schließlich, den Weg zu gehen. Ich bekam die Chance auf eine recht schnelle Aufnahme und ehe ich es mir anders überlegen konnte, stimmte ich dem Termin zu.

Als es soweit war und ich in die Klinik kam, erschien mir die Entscheidung wie ein Rettungsanker. Es gab Menschen, die mich verstanden und ich konnte mich fallen lassen. Sechs Wochen später revidierte ich meinen anfänglichen Eindruck. Nach dieser Erfahrung wollte ich nie wieder in solch eine Einrichtung. Warum auch, ich schaffe es bestimmt gut zuhause! Davon war ich jedenfalls überzeugt. Schlussendlich folgten nach dem ersten Klinikaufenthalt noch drei weitere.

Meine Erfahrungen – schmerzlich, erschütternd, ein Aufrütteln?

Diese Zeit war und ist immer noch prägend für mich. Mit Schmerz, Wut im Bauch und einem Kloß im Hals denke ich teilweise an Schlüsselmomente zurück. Momente, die mich verändert und meinem kranken Handeln Raum gegeben haben.

Es begann so harmonisch und hätte der Grundstein für unbeschwerte Jahre werden können – mein erster Aufenthalt. Ich war vorzeigefähig durch mein gutes Essverhalten, wurde gemocht und war die Starke. Was, die ist so dünn, kommt hier her und vertilgt aber ihr Essen bis auf den letzten Krümel?! Respekt! Respekt, ja, den bekam ich – anfangs. Nach und nach manövrierte ich mich jedoch in das kranke Denken hinein. Sah zu viel, hörte zu viel, passte mich an und machte ihre Gedanken zu meinen. Oder aber mir wurde einfach nur schmerzlich bewusst, dass ich doch essgestörter war als ich zu glauben vermochte.

Kurze Zeit später ließ ich Essen liegen und redete ich mich raus – genau wie ich das bei allen anderen auch beobachtet hatte. Sachen vertuschen war aber keine gute Eigenschaft in der Gruppe. Von der vorbildlichen Person war ich dadurch zur Zielscheibe geworden. Ich wurde gemieden und ausgegrenzt. Also mit dem Kopf durch die Wand, ich gegen alle – das kannte ich bereits sehr gut. Mit meiner Motivation ging es stetig bergab, die Zurückweisungen schmerzten.

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Die Geschichte mit dem Zwang

Ich sollte weg  und wollte schließlich auch weg. Diese erste Erfahrung mit Kliniken verfolgte mich von da an als abschreckendes Beispiel. Leider funktionierte es zuhause überhaupt nicht mehr. Ich hatte meine eigenen Regeln und ließ mir von niemandem etwas sagen. Dadurch reduzierte sich die von mir aufgenommene Nahrungsmenge auf ein Minimum, was letztlich zum Tiefpunkt meines Gewichts führte. Ich sah selber ein, dass ein Weiterkommen ohne Hilfe aussichtlos war. Auch die ärztliche Seite sprach dringend die Empfehlung eines weiteren stationären Aufenthalts aus. Also auf ein Neues.

Bei der zweiten Klinik wurde es dann so unmenschlich, dass mir noch heute das Herz schmerzt. Mit genügend Abstand kann ich beschreiben, was ich dort erlebt habe. Es gab zum Beispiel einen Vertrag, der mit Strafen arbeitete, wenn das Gewicht nicht geschafft wird. Als dieser Fall zweimal bei mir eintrat, bekam ich die Konsequenzen schmerzhaft zu spüren: eingesperrt auf meinem Zimmer, ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt, kein Briefverkehr, kein Telefon, keine Therapien und kein gemeinsames Essen.  Die Mahlzeiten wurden auf dem Zimmer serviert, dort war ich ihnen alleine ausgesetzt. Kein Lächeln, keine aufmunternden Worte oder Gehör von Mitpatienten oder Therapeuten. Mein Highlight am Tag war beschränkt auf das „aus-dem-Fenster-schauen.“ Mein größter Wunsch war so klein: einmal wieder die Sommersonne auf der blassen Haut spüren. Mein Herz hegte keine großen Ansprüche – es wollte nur Menschlichkeit erfahren.

Als ob das nicht bereits genug für meine Seele war, kam irgendwann das Thema Zwangsernährung auf. Ich war wie vor den Kopf gestoßen – ich, zwangsernährt? Es riss mir den Boden unter den Füßen weg. In seltenen Fällen kann über Zwangsmaßnahmen wie beispielsweise die Zwangsernährung bei Anorexie bestimmt werden. Dies geschieht meist dann, wenn Krankheitsfolgen und die bestehende lebensbedrohliche Situation nicht realitätsnah von Patientinnen und Patienten eingeschätzt werden oder sie sich weigern, überhaupt (stationäre) Hilfe in Anspruch zu nehmen. Eine Wahl hatte ich nicht. Ein weiterer Tiefpunkt, der mich zum Nachdenken anregte. Ich hatte mich doch freiwillig in die Klinik begeben. Ich war motiviert, etwas zu ändern – es klappte nur nicht wie gewollt. Und dennoch musste ich diese Maßnahme über mich ergehen lassen. Die Sonde wurde zunächst für zwei Wochen gelegt und sollte kurzfristigen Erfolg für mein Gewicht bedeuten, im Kopf jedoch sorgte sie für Aufbäumen und Sträuben gegen diese Klinik. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass die Essstörung mir Freiheiten und jegliche Kontrolle nahm.

Umdenken und Schritte nach vorn

Die letzte von vier Kliniken besuchte ich zweimal hintereinander. Sie gab mir ein Stück Normalität und Hoffnung zurück. In den Therapien war ich mit einer Gruppe aus hauptsächlich Gleichaltrigen zusammen. Wir hatten ähnliche Gedanken und Probleme – Loslösung von zuhause, eigenständig leben, etwas verändern wollen und herausfinden, was uns tatsächlich auszeichnet. Das Essen war wichtig – natürlich. Aber es nahm uns nicht komplett ein. Auch anderen Themen wurde Raum geschenkt.

Irgendwann kam dann der Tag, an dem ich die Nase voll hatte. Ständig kamen neue Patientinnen und Patienten. Immer die gleichen Geschichten, oftmals das gleiche Versteckspiel am Esstisch. Ich konnte und wollte es nicht mehr sehen. Zum ersten Mal wollte ich nach Hause. Davor beherrschte mich immer die Angst, dass es in der Klinik funktionierte und daheim nicht. Doch diesmal war es anders. Ich fühlte mich stark genug für ein Leben in der Heimat. Ich wollte es wagen, die Essstörung loszulassen.

Wer bin ich ohne die Essstörung?

In meiner Therapie erstellte ich eine Mindmap zum Thema „Wer bin ich ohne die Essstörung?“ Zunächst tat es mir weh, dass ich keine Antwort darauf fand. Doch damit wollte ich mich nicht abfinden. In den Kliniken hatte ich wieder meine Liebe zur Musik gefunden und beschäftigte mich außerdem mit der Hochzeit meiner Schwester. Tag für Tag arbeitete ich noch in der Klinik an einem Buch für sie und ihren zukünftigen Mann und stellte eine knapp einstündige Show auf die Beine. Ich fühlte mich dabei in frühere Zeiten zurückversetzt, wo ich gewitzt, selbstbewusst und voller Ideen war. Dieses Leben wieder in mir zu spüren war einmalig. Dieses unbeschreibliche Gefühl – ich wünsche es jedem.

An dieser Stelle möchte ich betonen, dass jede und jeder der Betroffenen einen eigenen Krankheitsverlauf hat und auch möglicherweise andere Beweggründe für einen klinischen Aufenthalt. Ich möchte niemandem den Mut nehmen, sich für diesen Schritt zu entscheiden, auch wenn ich teilweise negative Erfahrungen gemacht habe. Er kann unheimlich bedeutend für das Vorankommen sein! Jede Klinik verfolgt ein individuelles Konzept und dem einen Menschen wird es helfen, dem anderen nicht. Auch ich selbst habe Fehler gemacht und Mist gebaut, mich runterziehen lassen, anstatt die Gegebenheiten als Kampfansage für mein Leben zu nehmen. Macht ihr es besser – und solltet ihr Rückschläge erfahren, dann denkt dran: Das macht euch auf dem langen Weg nur stärker!

Von mir – für Euch

Aufgrund meiner Erfahrungen möchte ich euch gerne noch zwei Tipps an die Hand geben, falls auch ihr euch in einer ähnlichen Situation befindet.

  • Eine Klinik finden: Es gibt zahlreiche Kliniken mit verschiedenen Schwerpunkten. Holt euch Informationen darüber ein und versucht euch ehrlich zu betrachten: Ist mehr Verantwortung nötig oder nicht? Würdet ihr euch selbst belügen, wenn die Klinik Freiheiten bietet? Ich hätte es damals nicht zugegeben, aber für mich wusste ich immer, wieviel ich alleine „kann“ und wo noch die Essstörung spricht. Lasst euch drauf ein und redet lieber über die Dinge, die euch schwerfallen, anstatt sie zu vertuschen. Verheimlichen ist oft der einfache Weg, aber leider auch der kranke. Und stellt euch die Frage nach der Motivation. Wärt ihr bereit, die Essstörung ziehen zu lassen? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass auch nur dann der Weg für eine Therapie tatsächlich frei ist.
  • Kommunikation: Wie bereits erwähnt, ist Reden Gold wert. Seien es die Mitpatient*innen, die Klinikleitung, die Betreuerinnen und Betreuer. Ihr müsst nichts herunterschlucken und nicht alles über euch ergehen lassen. Die Krankheit ist tückisch und lässt euch zeitweise auch „dumme Sachen“ machen. Deshalb seid ihr als Mensch dennoch wichtig! Ihr dürft zugeben, wenn ihr gerade zwei Schritte rückwärts macht. Ihr dürft sagen, was euch belastet oder wenn ihr euch ungerecht behandelt fühlt. Bestenfalls werdet nicht nur ihr euch befreiter fühlen, sondern auch die anderen schätzen euch für eure Ehrlichkeit und können Unterstützung bieten.

Wie ich meinen Herzenswunsch verfolge

Zusammenfassend kann ich sagen: Es ist eine schmale Gratwanderung zwischen der medizinischen Verantwortung, dem Klinikkonzept und den Bedürfnissen des Kranken – bzw. des Menschen, der dahintersteckt. Damals empfand ich nur Unverständnis für die Verantwortlichen. Wie konnte man mich so behandeln? Heute sehe ich es in großen Teilen noch immer so, bin aber wesentlich reflektierter und versuche auch die andere Seite zu verstehen. Genau an diesem Punkt setzte ich vor knapp drei Jahren an, als ich mich entschloss, ein Studium im Bereich Gesundheitsmanagement aufzunehmen. Ich wollte danach bereit sein, Veränderungen loszutreten und auf all die Missstände, die ich persönlich erlebt habe, hinzuweisen. Ich wollte beruflich mit den Essgestörten in Kontakt kommen, ihnen zur Seite stehen und das alles in großem Rahmen: ich wollte eine Klinik für Essstörungen leiten und den Hut aufhaben. Die Zügel in der Hand halten. Ein Konzept etablieren, das es erlaubt, noch den Menschen zu betrachten, Zeit zu schenken und Zuversicht.

Meine Erfahrungen haben mich geprägt und geformt, aber vor allem haben sie mir eines vermittelt: die Schmerzen und die Umstände, die „verlorenen Jahre“ müssen nicht umsonst gewesen sein. Wenn es mir gelingt, auch nur einen Menschen zu erreichen und ihm Mut zu schenken – dann sitzt auch er vielleicht bald am Fenster, lächelt gedankenverloren und spürt wieder, was Glückseligkeit bedeutet. Das wäre es mir wert.

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Quelle: privat

Holly

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