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Der Tag, an dem ich magersüchtig wurde:
Das Gespräch mit Mama vor dem Spiegel
InCogito Autorin Olivia schildert, wie sie durch ein riesiges Missverständnis, Unsicherheit und unserem Ideal von schön und akzeptabel eine Magersucht entwickelte. Und wie sie heute mit ihrer Mutter umgeht.
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Ich war 12 Jahre alt und steckte mitten in meiner ziemlich frühen Pubertät, als dieses denkwürdige Gespräch mit meiner Mama vor dem Spiegel stattfand. Ich hasste meinen Körper so sehr dafür, dass meine Brüste viel früher als bei allen anderen anfingen zu wachsen, dass meine Achselhärchen sprießten, mich andere darauf ansprachen und ich einfach nichts dagegen tun konnte, was mein Körper da machte. Ich schrieb deshalb schon ein Jahr ständig in mein Tagebuch, wie unzufrieden ich mit meinem Busen und wie peinlich mir mein Körper war. Wie sehr ich mich selbst dafür hasste. Manchmal wünschte ich mir, meinen Busen einfach abschneiden zu können.
Die Ärzte sagten zu mir und meiner Mutter, dass ich meine Pubertät verlangsamen könnte, indem ich abnehmen würde. (Wenn ich das heute bei anderen Ärzten schildere, erhalte ich standardmäßig die Antwort: „Das kann nicht sein, dass das eine Ärztin gesagt hat.“ Doch, leider ja! – aber das ist ein anderes Thema.) Jedenfalls meinte meine Mutter es wirklich nur gut mit mir und achtete auf Ratschlag der Ärzt:innen darauf, dass ich nicht weiter zunehme, eher abnehme. Damit wurden Essen, Gewicht und Aussehen zu DEN Themen zwischen mir und meiner Mutter.
Schokoladenfondue zu essen ist mir peinlich
Tagebucheintrag von Dienstag, 30.08.
Direkt nach der Schule ist Kathi mit zu uns nach Hause gekommen. Das hat total viel Spaß gemacht. Wir wollen uns unbedingt mal wieder treffen. Da ich mit ihr nachmittags spontan Schokoladenfondue gemacht habe (es war Kathis Vorschlag), gab es heute Abend nur Salat. Natürlich waren Kathi und ich auch noch beim Leichtathletik-Training. Eben hat Mama mir auch noch eine Lektion übers Abnehmen erzählt.
Die Lektion übers Abnehmen
Mama hat mich gefragt, ob ich gesehen habe, wie meine Freundin Kathi sich im Spiegel angeschaut hat und ob ich weiß, worauf sie da geachtet hat. Was für eine Frage. Natürlich wusste ich, welche Antwort Mama jetzt hören wollte. Nämlich, dass Kathi sich ihren Po angeschaut hat, der zugegebenermaßen echt hübsch war. Töchter wissen, was Mütter hören wollen. Genauso wie Mütter zu wissen meinen, was gut für ihre Töchter ist. Auf Mamas Frage habe ich also mit „Ja“ geantwortet. Mama meinte dann mal wieder, dass sie mir das trotzdem nochmal ganz genau erklären muss: „Ja richtig, sie hat geschaut, dass ihr Po nicht zu dick ist.“ Ich habe mich von Mama für dumm gehalten gefühlt, als ob ich nicht wüsste, was Mama denken und sich von mir wünschen würde. Ich wusste es genau. Und weil ich genau wusste, dass ich ihren Erwartungen, so wie ich gerade war, eben nicht entsprach, fühlte ich mich gekränkt, nicht liebenswert und minderwertig. Ich wusste so genau, was sie sich für eine Tochter wünschte. Wie sie auszusehen und zu essen hatte. Das ich das nicht erfüllte, war mir schon lange klar. Zumindest kam es damals immer so bei mir an, obwohl meine Mutter es immer nur gut mit mir meinte. Heute sprechen meine Mutter und ich offen darüber. Es tut ihr wahnsinnig unbeschreiblich doll leid, ihr Körperideal so stark auf mich projiziert zu haben. Heute sehen wir die Entstehung meiner Anorexie als ein riesengroßes Missverständnis zwischen ihr und mir. Das Einzige, was Mama damals wollte war, dass ich aufgrund meines Aussehens nicht gemobbt werde oder selbst damit unzufrieden bin. Sie liebte mich immer so wie ich war. Sie wollte nur, dass es mir gut geht. Und sie nahm aufgrund ihres Schönheitsideals an, dass ich mich in meinem Körper nicht wohlfühlen könne und dass die Gefahr bestand, dass ich aufgrund meiner körperlichen Veränderungen gemobbt werden würde. Das wollte sie nicht für ihre geliebte Tochter. Bei mir kam aber an: „Du bist nicht gut so wie du bist.“ Deswegen habe ich mich während Kathi und ich zum Vorbereiten und Essen des Schokoladenfondues in der Küche waren, gegenüber Mama, die sich im Wohnzimmer nebenan aufhielt, sehr unwohl und peinlich beobachtet gefühlt. Auch wenn ich mir eigentlich bewusst war, dass ich ihre Wünsche an eine Tochter bezüglich Aussehen und Essen nicht erfüllte, tat es trotzdem immer dann ganz besonders sehr weh, wenn ich das so direkt zu spüren bekam wie in der folgenden Situation:
Tagebucheintrag von Mittwoch, 31.08.
Jetzt ist es ernst. Du musst abnehmen!
Es tut so weh, sich an diesen Tag, diese Situation zurückzuerinnern. Sie war für mich der definitive Auslöser meines ganzen Leidenswegs, der Tag, an dem ich magersüchtig wurde.
Mama, ihr Freund und mein Bruder und ich sitzen gemeinsam am Abendbrottisch in der Küche. Der Korb mit Brot steht auf dem Tisch. Dazu Käse, Aufschnitt und Gemüse. Ich habe vielleicht zwei Scheiben Brot gegessen. Ich habe noch Hunger. Und greife nach dem Brotkorb, um mir eine weitere Scheibe daraus zu nehmen. Ich erschrecke: „Nein, Olivia! Das reicht jetzt. Du hörst jetzt auf zu essen. Komm mal mit mir vor die Tür.“, fährt Mama dazwischen. Wir gehen zu zweit in den Flur. Mama zieht die Küchentür hinter sich zu. Im Flur erteilt sie mir nochmal eine Lektion übers Abnehmen: „Jetzt ist Stopp mit Essen. Zwei Scheiben Brot reichen. Jetzt musst du wirklich mal aufpassen, dass du nicht noch dicker wirst und noch weiter zunimmst. Jetzt ist mal Stopp. Du achtest jetzt mal mehr darauf, was und wie viel du isst. Es wird nicht mehr so viel genascht! Dieses ganze süße Zeug. Ich habe immer darauf geachtet, als ihr klein wart, dass ihr euch gesund ernährt. Du bist nicht so viel in Bewegung wie dein Bruder Torben. Deswegen verbraucht dein Körper nicht so viel wie seiner. Torben kann es ab, so viel zu essen, er verbrennt das ja auch und er ist ja auch noch im Wachstum. Männer verbrauchen sowieso mehr als Frauen. Ab heute wird abgenommen.“
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Wir stehen im Treppenhaus gegenüber des Spiegels. Die anderen beiden sitzen währenddessen in der Küche und essen weiter Abendbrot oder lauschen. Ich weiß nicht, wie laut Mamas Stimme zu hören war. Mama hat die Angewohnheit, wenn ihr etwas wichtig ist, in einen nicht enden wollenden Redeschwall auszubrechen.
So ist es auch dieses Mal.
Mir stehen die Tränen in den Augen.
Ich lasse es über mich ergehen.
Natürlich nehme ich mir das, was sie gesagt hat, sehr zu Herzen. Es ist immerhin meine Mutter, die möchte, dass ich abnehme und sie hat immer recht aus Sicht meines kindlichen Ichs. Wir gehen zurück in die Küche und setzen uns wieder zu den Männern an den gedeckten Abendbrottisch. Ich esse nichts mehr. Und warte einfach nur schweigend, bis wir endlich den Tisch abdecken und ich auf mein Zimmer verschwinden kann, um endlich zu weinen. Denn ich wusste: Gegenüber meinen Eltern muss ich stark sein.
Als ich endlich auf meinem Zimmer allein war, fing ich an zu heulen und schnappte mir mein Tagebuch und schrieb darin einen Abnehmplan für die nächste Woche auf. Ich sah zu, dass ich jeden Tag Bewegung einbaute und bereitete zwei Spalten für mein Gewicht vor: eine für morgens und eine für abends.
Ich begann, mich täglich zu wiegen. Vorher hatte ich das fast nie gemacht. Eigentlich nur beim Arzt und ab und zu auch schonmal heimlich zwischendurch mittags, bevor Mama von ihrer Arbeit nach Hause kam. Ich stürzte mich völlig unwissend darüber, was ich tat, Hals über Kopf in die Magersucht und wendete so all die angestaute Wut in mir im Kampf gegen mich selbst auf.
Ich richtete alle Wut gegen mich selbst
Schlussendlich war ich einfach wütend darauf, dass ich überhaupt ich bin. Dass ich in meinem „Scheiß-Körper“ lebe. Ich richtete all meine Wut gegen mich selbst. Vielleicht hatte ich gerade begonnen, mich mit meinem neuen Körper nach der Pubertät anzufreunden, aber meine Familie gestaltete mir das quasi als ein unmögliches Vorhaben.
MEIN Körper wurde zu einem gemeinsamen Familienthema. Als ob es nichts Spannenderes gäbe…Das Thema wurde immer wieder aufgewühlt. Ich wusste nicht, dass andere Familien nicht so sein könnten. Ich dachte, jede Familie ist so wie meine und das sei normal. Trotzdem wollte ich ENDLICH Aufmerksamkeit haben. Ich sehnte mich danach, ernst genommen zu werden mit meinen Wünschen und meinen Bedürfnissen. Ich wollte endlich, dass ich das machen und essen darf, was ich möchte und so viel wie ich möchte. Ich wollte, dass es meiner Seele jetzt sofort besser geht. Mein Körper war mir dabei egal. Ich habe erkannt, dass ich etwas an mir ändern muss, damit die Situation besser wird und dass ich die anderen nicht ändern kann. Mit der Magersucht ging es meiner Seele in dieser Situation besser.
Die Magersucht war für mich der einzige Ausweg daraus gewesen, es mit meiner Familie weiterhin auszuhalten, endlich keine Kritik mehr für mein Aussehen oder Essverhalten zu bekommen. Ich wusste, dass ich nichts an der Situation verändern konnte außer mein Verhalten. Jetzt war mir klar: wollte ich weiter um Anerkennung von meiner Familie kämpfen, muss ich abnehmen. Der anfängliche Wunsch abzunehmen, wurde schleichend und rasch zugleich zum Ausdruck meines Bedürfnisses nach Fürsorge und Aufmerksamkeit durch meine Eltern.
Meine Tagebucheinträge drehten sich von Tag zu Tag mehr um mein Gewicht:
Donnerstag, 08.09.
Heute morgen habe ich 300 Gramm weniger gewogen als die letzten beiden Tage. Gut, oder???
Freitag, 09.09.
Heute morgen habe ich wieder 300 Gramm weniger gewogen. Juhu. XX Kg geknackt.
Samstag, 17.09.
Minus 400 Gramm.
Mittwoch, 26.10.
Neuer Rekord! XX kg!
Mittwoch, 09.11.
Ich glaube, ich habe zu viel gegessen.
Freitag, 11.11.
Waage ist wieder heile und gleich neuer Rekord! Minus 1,7 kg!
Donnerstag, 01.12.
Minus 2,8 kg.
Freitag, 02.12.
Juhu! XX kg geknackt!!!
…
… meine „neuen Rekorde“ konnte ich schon bald nicht mehr bremsen.
Als ich das heute, 13 Jahre später, einer Freundin erzählte, sagte sie zu mir: „Es scheint fast so, als hätte die Tochter deiner Eltern nur magersüchtig werden können“. Damit will ich Magersucht nicht verherrlichen, sondern aufzeigen, wie eng verstrickt Essstörungen mit dem Familiensystem sein können.
Was ich Eltern gerne sagen möchte
Ich würde niemals wollen, dass meine Mutter sich schuldig fühlt, weil sie mit zur Entstehung meiner Essstörung beigetragen hat, indem sie ihr Körperbild bzw. das, was ihr durch die Gesellschaft beigebracht wurde, auf mich projiziert hat. Sie hat sich so oft dafür bei mir entschuldigt, mich mit ihrem Schönheitsideal so stark beeinflusst zu haben. Sie hat mir heute versprochen, dass sie mich immer lieben wird: egal, ob dick oder dünn, alt oder jung, klein oder groß, erfolgreich oder nicht erfolgreich, egal, was ich esse und was ich nicht esse. Es fällt mir manchmal zwar immer noch sehr schwer, ihrem Versprechen wirklich auch zu glauben, weil es meine ganze Kindheit und Jugend lang anders bei mir ankam. Doch es ist das Einzige, was meiner Mutter heute bleibt. Sie kann das Vergangene nicht ändern. Sie kann nur daraus lernen, ihr eigenes Verhalten reflektieren und ihr Verhalten heute ändern. Und dass sie das macht, dass sie sich darauf einlässt und gleichzeitig um sich selbst kümmert, macht sie aus meiner Sicht zu einer unglaublich starken Person. Es gehört einiges dazu, sich um sich selbst zu kümmern, sich eigene Fehler einzugestehen, sein eigenes Verhalten zu reflektieren und sich immer wieder aktiv dafür einzusetzen, dieses Verhalten zu verändern.
Das ist wahrer Mut und wahre Stärke! Und das verbindet uns heute.
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