"Menschen verbinden sich an Stellen, wo sie kaputt gegangen sind"
Durch Abnehm-Kuren in ihrer Kindheit, Verletzungen beim Sport, unzähligen Diäten und einem geringen Selbstwert entwickelte Nicole Jäger eine Binge-Eating-Störung. Heute liegt ihr letzter Essanfall über fünf Jahre zurück und sie ist als Comedienne und Autorin mehr als erfolgreich. Mit InCogito hat sie über ihre Erfahrung mit ihrer Essstörung gesprochen, was ihr Selbstwertgefühl damit zu tun hat und was ihr das Schreiben gibt.
DU SUCHST AUSTAUSCH MIT ANDEREN?
In unseren Selbsthilfegruppen kannst du dich mit anderen über Körper, Essen, Selbstwert oder Ängste unterhalten und gegenseitige Unterstützung erfahren.
Melde dich direkt hier dafür an!
InCogito: Bisherige Interviews mit dir beginnen oft damit, dass Du über dich selbst sagst „Ich bin eine fette Frau“. Wofür findest du es wichtig, deinen Körper so zu beschreiben?
Nicole Jäger: Ich finde das gar nicht wichtig. Meistens startet das Interview aber mit einer Frage zu meinem Körper. Und ich überlasse wirklich nur ungern die Kommunikationshoheit über mich jemand anderem. Deshalb stelle ich das zu Beginn gleich klar. Ich würde aber nie von selbst ein Interview so beginnen. Denn das ich übergewichtig bin, ist nicht das was mich ausmacht.
Was gab dir damals, als du begonnen hast, dich mit dir und deiner Essstörung auseinanderzusetzen die Zuversicht, dass du auch ohne Adipositas-Operation eine reelle Chance hast, gesund zu werden?
Ich bin überzeugt davon, dass Adipositas-Chirurgie nicht die Antwort auf eine Essstörung ist. Denn selbst wenn du operiert bist, bist du trotzdem essgestört. Die OP nimmt dir, dem Suchtdruck nachzukommen und vielleicht auch ein bisschen Druck von außen, weil du dann relativ schnell schlanker bist.
Aber es gibt ja einen Grund, warum Menschen, die solch eine OP hatten, danach in andere Süchte fallen, warum viele nach einer Operation so stark mit Suizidgedanken strugglen. Es ist eben nicht nur eine Operation. Eine Essstörung passiert nicht im Magen. Für mich war immer klar, wenn mein Magen nicht das Problem ist, wird auch eine OP an meinem Magen nicht die Lösung sein.
Ich glaube einfach, dass das Heil nicht im Schlank sein liegt. Denn im Umkehrschluss wären alle schlanken Menschen glücklich und das ist einfach nicht der Fall. 2 Prozent aller Menschen mit Adipositas weltweit schaffen es ohne Magen-OP. Das ist eine riesige Zahl. Und ja, warum sollte ich nicht dazugehören, mit dem nötigen Wissen und Geduld.
Das heißt dein Ziel war nicht abzunehmen, sondern der Essstörung zu begegnen? Denn oft wird in den Medien deine Gewichtsabnahme in den Vordergrund gestellt.
Ich glaube, das liegt daran, dass Essstörung immer noch gern weggelächelt werden. Und es gibt auch ein mir völlig unerklärbares Ranking der verschiedenen Formen von Essstörungen. Magersüchtig zu sein ist nicht so schlimm wie bulimisch zu sein. Bulimisch zu sein, ist aber viel schlimmer als esssüchtig zu sein. Das ist alles so ein Bullshit. Ich glaube, dass Essstörungen überhaupt nicht so wahrgenommen werden, als das was es ist. Nämlich als eine Störung, die für Betroffene ein ernsthaftes Problem ist. Viel mehr als nur ein Gewichtsproblem à la der oder die isst zu wenig oder zu viel. Und gerade dann, wenn wir von Binge-Eating-Disorder sprechen. Denn übergewichtig zu sein ist gesellschaftlich hoch problematisch. Deswegen sprechen wir darüber am allerwenigsten, denn Dicke sollen einfach abnehmen. Punkt. Und wenn Betroffene Gründe angeben, warum eine Abnahme nicht funktioniert, sind die nur vorgeschoben. Das ist die allgemeine gesellschaftliche Meinung. Und Essstörungen bei denen die Betroffenen schlank sind, sind dann gesellschaftlich legitim, weil die Personen eben schlank sind.
Dass der Körper von Menschen mit Essstörungen „nur“ ausdrückt, dass da was nicht in Ordnung ist, der Körper ein sichtbares Symptom ist und dass dahinter eine richtig krasse Geschichte steckt, erfährt gesellschaftlich meist überhaupt keine Würdigung. Am krassesten ist das der Fall, wenn wir über Esssüchte sprechen, bei denen Betroffene übergewichtig sind. Diese Menschen haben gesellschaftlich jede Legitimation verloren.
War es dein Ziel, abzunehmen als du begonnen hast, etwas anders zu machen? Wie bist du gestartet?
Am Anfang ging es bei mir schon auch um Gewichtsverlust. Doch ich musste, mich gleich zu Beginn auch mit der gesamten Thematik Essstörung beschäftigen, weil ich zu diesem Zeitpunkt schon 20 Jahre Diätkarriere hinter mir hatte – das hätte mich fast umgebracht. So konnte es für mich nicht weitergehen. Ich musste rausfinden, was eigentlich das verdammte Problem ist. Denn ich bin intelligent genug um zu verstehen, dass ein Apfel weniger Kalorien hat als Schokolade. Ich bin ja nicht blöd. Also musste ich mich damit auseinandersetzen, was denn sonst bei mir los ist. Ich musste rausfinden:Wofür steht das Essen bei mir.
War dir klar, dass du eine Essstörung hast?
Für mich war das ein sehr langer Prozess, anzuerkennen, dass das bei mir auch wirklich eine Essstörung ist. Und eben nicht: Ich bin nur zu faul. Andere schaffen es ja auch. Damit habe ich mich auch am Anfang auseinandergesetzt. Und dann musste ich herausfinden, was ich anders machen muss, damit ich überhaupt eine Chance habe. Denn ich wusste, Diäten machen es definitiv nur schlimmer. Das ist wie Öl ins Feuer zu gießen. Ich habe dann festgestellt, dass ich an das Mentale ranmuss. Ich brauchte eine Krankheitseinsicht und konnte dann die Haltung entwickeln: Wie kann ich mit meiner Essstörung gemeinsam einen Weg finden? Wie gehe ich mit dieser Erkrankung um?
Kannst du beschreiben, wie sich deine Essstörung heute im Vergleich zu vor deiner großen Abnahme anfühlt?
Die Essstörung fühlt sich heute nicht mehr so bedrohlich an. Sie fühlt sich meistens nicht mehr größer an als ich. Das habe ich in meinem Buch „Nicht direkt perfekt“ thematisiert. Ich sehe mich heute als Mensch und dieser lebt mit einer Essstörung. Sozusagen in friedlicher Koexistenz.
Ich habe für mich verinnerlicht, dass ich schon jetzt ein vollständiger Mensch bin und nicht nur, wenn die Essstörung komplett passé ist.
Bedeutet das für dich, dass du einen Teil deines Lebens mit der Essstörung teilst?
Ja, und das ist kein Aufgeben. Im Gegenteil. Ich werde sicher kein Mensch werden, der nie über essen nachdenkt. Denn das mache ich schon seit meinem 5. Lebensjahr. Mein Weg raus aus der Sache ist: zu wissen und zu fühlen: Essen tut mir nichts und ich bin okay. Ich bin jetzt an dem Punkt, dass ich mich nicht mehr schäme zu essen. Und eben auch der Punkt zu fühlen, dass es in Ordnung ist, übergewichtig zu sein.
Es wäre natürlich cool, wenn ich morgens aufwachen würde und denken würde: Essstörung? Nee weiß ich nicht, wie sich das anfühlt. Aber das glaube ich nicht. Ich denke, dass ich immer ein bisschen Awareness brauche, um nicht wieder dorthin zurückzufallen, wo es ganz schlimm war. Und dafür ist Essen immer ein bisschen mein Thema, aber es ist nicht mehr das Hauptthema.
Und ich glaube durchaus, dass Menschen da rauskommen können, was die Essstörung Negatives mit ihnen macht. Ich selbst bin auch keine Binge-Eaterin mehr. Mein letzter Anfall ist fünf Jahre her. Und trotzdem: Die Art wie ich esse, ist sehr Ausdruck dafür, wie es mir geht. Und das hilft mir auch, auf mich zu achten.
Derzeit ist Nicole Jäger mit ihrem Programm „Walküre“ in ganz Deutschland auf Tour. Wir können euch ihre Show, Bücher und zahlreichen Interviews nur wärmstens ans Herz legen.
Was hat dein Selbstwertgefühl mit deiner Genesung zu tun?
Die Frage danach ist eine sehr große. Ich weiß, ich war kein gewolltes Kind und ich glaube, ich bin kein sehr erwünschtes Kind gewesen. Und das habe ich gespürt. Ich habe als Kind verinnerlicht, dass mein Wert von meiner Leistung abhängt. Ich als Mensch muss mir meinen Wert und Liebe erarbeiten. Und weil ich auch noch übergewichtig bin, bin ich noch wertloser, weil mein Körper mich weniger liebenswert macht. Und das war dann auch meine feste Überzeugung. Ich musste erstmal herausfinden, dass mein Wert unabhängig ist von der Meinung einer anderen Person und unabhängig von meiner Leistung, und dass diese Überzeugung sehr stark mit meinem Essverhalten verbunden war.
DU HAST Redebedarf?
Unsere ehrenamtliche Peer-Beratung ist für dich da. Hier kannst du jederzeit in WhatsApp jemandem schreiben.
Und wie hast du das herausgefunden?
Ich habe begonnen, mir Fragen zu stellen: Warum bin ich mir es selbst nicht wert, mich gut um mich zu kümmern? Ich habe mich um andere gut kümmern können, aber nicht um mich. Mir wurde auch erst später klar, dass, wenn man isst, bis es einem nicht mehr gut geht, das ja auch eine Form von selbstverletzendem Verhalten ist. Ich musste mich fragen, weshalb ich Essen gegen mich nutzte, anstatt für mich.
An meinem Wert zu arbeiten und genug Respekt mir selbst gegenüber zu entwickeln, das war meine Aufgabe. Heute habe ich diesen Respekt vor mir selbst und kann auch diesem Schuldgefühl Einhalt gebieten und sagen: es geht um mein Recht auf Essen, auf mein Leben. Und seit ich das nicht nur kognitiv, sondern auch emotional verstanden habe, seitdem wird es besser.
Kannst du beschreiben, wie du an deinem Selbstwert gearbeitet hast?
Ich habe begonnen, mich mitzuteilen, mir Hilfe zu suchen. Ich durfte erfahren, dass ich darüber sprechen kann, ohne dass die Welt untergeht. Ich habe mich geöffnet, gesagt, was mir unangenehm ist, wofür ich mich schäme. Und dann wurde es einfacher, weil mein Gegenüber mich besser verstehen konnte. Das Gefühl in mir, das so ohrenbetäubend laut war, wurde leiser. Ich habe Mitwisser geschaffen. So konnte das Gefühl raus aus mir.
Du sprichst heute über sehr persönliche Themen in der Öffentlichkeit, in deinen Büchern, Shows und Interviews. Fällt dir das leicht?
Das was ich mache, ist für mich immer eine Überwindung, weil es so persönlich ist. Und ich bin sehr emotional und sensibel und man kann mich verletzten. Ich bin nicht kugelsicher. Ich habe sehr viel Zeit damit verbracht, genau darum eine Mauer zu bauen. Ich war ein sehr rougher Mensch und habe festgestellt, dass ich damit unglaublich unglücklich bin. Mit dem Gewicht, das ich verlor – heute ungefähr 190 Kilogramm, wurde ich auch angreifbarer und habe festgestellt, dass das gar nicht schlimm ist.
Ich glaube, dass wir auch als Gesellschaft weiterkommen würden, wenn wir uns trauen würden, uns gegenseitig die Sachen zu zeigen, die nicht so schön an uns sind, dich nicht leicht sind. Denn Menschen verbinden sich an den Stellen, wo sie kaputt gegangen sind. Und nicht an den schönen Stellen. Und es ist immer eine Überwindung darüber zu sprechen.
Hier bei InCogito bieten wir Schreibworkshops als Selbsthilfe an. Wie machst du dir das Schreiben zunutze?
Ich brauchte einen Ausdruck, ich wollte darüber sprechen, und ich wollte nicht, dass Menschen die in einer ähnlichen Situation sind, sich einsam fühlen. Wenn wir uns trauen verletzlich zu sein, dann erlauben wir unserem Gegenüber die Schilde runterzufahren.
Schreiben ist meine persönliche Delphin-Therapie. Im Schreiben habe ich die Chance, mich auszudrücken – mit so viel Zeit wie auch immer ich brauche, ich kann mich immer wieder korrigieren. Und vor allem – ich kann hinterher von außen drauf gucken, zurücktreten, Abstand nehmen.
Du möchtest das Schreiben gemeinsam mit anderen ausprobieren? Dann komm in unsere Schreib-Workshops!
Das Interview führte Nora Stankewitz
Schreib uns
Möchtest du über deine Erfahrungen sprechen?
Dich belasten Gedanken & Zweifel rund um die Themen Aussehen, Körper, Essen, Selbstwert? Hier kannst du uns 24/7 über WhatsApp schreiben. Jede Nachricht wird beantwortet! Bitte beachte, dass wir kein Krisendienst sind. Falls du dich in einer akuten Krise befindest, Suizidgedanken hast oder sofort Hilfe brauchst, ruf bitte umgehend die Telefonseelsorge an: 0800 1110111 (kostenlos).
* dieser Link funktioniert nur auf deinem Mobiltelefon/Tablet, und du musst WhatsApp installiert haben.
Dich belasten Gedanken & Zweifel rund um die Themen Aussehen, Körper, Essen, Selbstwert? Hier kannst du uns per E-Mail schreiben. Jede Nachricht wird beantwortet! Bitte beachte, dass wir kein Krisendienst sind. Falls du dich in einer akuten Krise befindest, Suizidgedanken hast oder sofort Hilfe brauchst, ruf bitte umgehend die Telefonseelsorge an: 0800 1110111 (kostenlos).
Du hast selbst die Wahl, ob und über welchen Kanal du mit uns in Kontakt treten möchtest – entweder per WhatsApp oder per E-Mail. Insofern noch nicht erfolgt, musst du hierfür unabhängig von unserer Beratungsplattform bei einem Kommunikationsdienstleister deiner Wahl (z.B. Web.de, GMX.de, Gmail.com, Facebook/Meta, etc. ) eine E-Mail-Adresse bzw. einen WhatsApp-Account registrieren. Bitte beachte, dass du hierbei stets die Datenschutzbestimmungen der Kommunikationsdienste akzeptierst, die als „Datenverarbeiter“ die gesetzlichen Datenschutzauflagen (insbesondere der DSGVO) zu erfüllen haben.
Nachdem du uns über den „Kommunikationsdienst“ deiner Wahl angeschrieben hast, wird deine Nachricht automatisiert in einer zentralen Beratungsplattform ( Userlike ) gespeichert und verarbeitet.
Grundsätzlich können alle unsere Peer-Berater*innen auf deine Nachricht(en) und ggf. auch Kommunikationsdaten (z.B. Email-Adresse, Handy-Nummer) über diese Plattform zugreifen. Wir werden mit deinen Daten bzw. Informationen natürlich sehr vertraulich umgehen und diese niemals weitergeben oder außerhalb dieser Plattform speichern. Die einzige Ausnahme: Falls du im Gespräch mit den Berater*innen Suizidgedanken äußerst oder andeutest, sind wir dazu verpflichtet, deine E-Mail-Adresse, Handynummer oder IP-Adresse an die Polizei weiterzugeben.
Der Versand von Nachrichten, egal ob per E-Mail oder per Whatsapp, erfolgt durch uns ausschließlich über die Beratungsplattform. Userlike speichert hierfür Nachrichten in eigenen Datenbanken und übermittelt diese direkt oder über Schnittstellen an die von euch gewählten Kommunikationsdienste.
Theoretisch kann auch Userlike als s.g. Auftragsdatenverarbeiter auf deine Daten bzw. unsere Kommunikation zugreifen. Um dies abzusichern, haben wir mit dem Dienstleister eine „Vereinbarung zur Auftragsdatenverarbeitung“ geschlossen, die die Einhaltung des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) und der europäischen Datenschutz-Grundverordnung gewährleistet. Mehr dazu kannst du hier lesen.
Userlike nutzt bzw. speichert zur Bereitstellung des Dienstes die von euch bei den Kommunikationsdiensten hinterlegten personenbezogenen Daten, insbesondere Vor- und Nachnahme, Endgerät, Profilbild sowie die über Userlike ausgetauschten Nachrichten. Diese Daten werden in einer verschlüsselten Datenbank gespeichert. Weder Userlike, noch wir, werden jemals personenbezogene Daten von euch an die Kommunikationsdienste übermitteln!
Die o.g. Daten werden nur zur internen Fallbearbeitung bzw. für die Beantwortung eurer Nachrichten genutzt, wir geben sie nicht weiter und verwenden sie nicht anderweitig. Für andere Chat-Nutzer sind die o.g. Daten nicht sichtbar oder zugänglich, da wir keine Gruppennachrichten verschicken. Wenn du dich von dem Dienst abmeldest (s.u.) werden deine o.g. Daten aus der Datenbank gelöscht.
Mehr Informationen und die Datenschutzerklärung von Userlike findest du hier.
Du kannst dich jederzeit vom Dienst abmelden und deine Einwilligung zur Datenverarbeitung widerrufen. Sende dazu einfach in deinem Messenger die Nachricht „STOPP“. Wenn du zusätzlich auch alle Daten löschen möchtest, sende „Alle Daten löschen“.
Bitte beachte auch unsere ausführlichen Informationen in unseren Datenschutzbestimmungen. ( als Link: https://in-cogito.de/datenschutz/)
Das passiert im Netz unter
#incogito